Viktor Eduard Prieb - Literatur
- Prosa


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IHR UND WIR



Teil 2
meines Romanes

"Die Schließbarkeit des Kreises
oder
die zweihundertjährige Reise"





Euch, "Deutschländern" (Deutschlanddeutschen), – im verzweifelten Versuch,
die Motive Eures Treibens mit brüderlicher Liebe zu begreifen –
gewidmet





Das Vorwort

Ein Mensch kann nicht nur mit Erinnerungen an seine Vergangenheit leben. Die Gegenwart beherrscht unser Bewusstsein mit so einer unermesslichen Aufdringlichkeit und belastet uns so mit Sorgen über die Zukunft, dass die Vergangenheit immer weiter verdrängt wird.

Trotz aller dem treffen uns manchmal Zufälle, bei denen irgendein Ereignis oder sogar irgendein Gegenstand diese Vergangenheit ganz plötzlich heraufholt, wie ein aus den Gedächtnistiefen gelichteter Anker.

Einst geriet ich gelegentlich in ein weit entferntes und ganz stilles Dorf in einer mir vorher unbekannten Gegend, wo ich nie war, nie beabsichtigte zu sein und bestimmt nie mehr sein werde. Und dort, an einem steilen Flussufer, stieß ich an eine bemooste, aus dem irgendwann da gewesenen Hof führende Zauntür.

Ihre Gestalt bedrückte durch das Alter, die Einsamkeit und die Schwermut. Im Wirrwarr meines Alltags blieb ich plötzlich verblüfft vor ihr stehen. Wie viele Jahre und Ereignisse benötigte man zu erleben, die so oder anderswie sein Leben beeinflussten; wie viele Wege sollte man hinter sich zurücklassen, um sich mit ihr in diesem verwilderten Hof am steilen Ufer zu treffen? Unwillkürlich beginnen diese Jahre und Ereignisse – an die zu denken, es sonst gar keine Zeit gab – vor Augen durchzulaufen.

Wahrscheinlich fingen wir zur gleichen Zeit unsere Kreisel an – sie um ihren Pfosten und ich in einer breiten Spirale meines Schicksals, die mich letztendlich zu dieser Zauntür geführt hat. Mit vielen Windungen kreiste meine Spirale... Mit jeder Windung beschleunigte sich das Drehen, als ob sich der Faden meines Schicksals um denselben Pfosten herumwickelte, an dem sie hing und sich um ihn herumschlug.

Und nun endlich diese Kollision mit ihr, wie eine Rückkehr zum Beginn aller Beginne. Zu einem Ausgangspunkt, der durch den Raum und die Zeit unbeeinflusst bleibt. Die Zeit fließt an ihm vorbei und markiert von diesem Punkt an ihren Lauf, den auch ich durchlebte.

Viele flüchtige Berührungen fühlte die Zauntür in diesen langen Jahren. Und manchmal lehnten sich Menschen mit aller Schwerkraft an sie. Die Menschen, die mit ihrem Unglück und ihren Sorgen an diesen Uferabhang gelangten. Und sie teilte mit ihnen ihre Schwere, immer mehr herabhängend und immer mehr bemoost. Teilte, um all menschliches Unglück durch knarrendes Heulen ihrer Angeln jetzt auf meine Seele auszuschütten.

Verfallen und bemoost steht sie am Rande des vor den Frühlingstoben des Flusses immer weiter weichenden Ufers. Unermüdlich schaukelt sie sich hin und her um den einzigen gebliebenen Pfosten, immer und immer wieder den beharrlichen Flusswind in den seit langem durch das Unkraut bewältigten Hof hereinlassend. Schon lange fehlt der zweite Pfosten, der ihre endlose Unruhe hätte auf sich aufnehmen und dadurch ihr wenigstens eine kurze Ruhe schenken können.

Wie viele Jahre schaukelt sie hier? Wie viele Jahre winkt sie verabschiedend dem Fluss, der einen scharfen Bogen unter ihrem Uferabhang macht? Und wie viele Jahre werden noch vergehen, bis der auf dem Hof bummelnde Wind sie in diese endlosen grauen Wellen hinunter umkippt? Wo schwimmt sie hin, ihrer einzigen Stütze beraubt?

Wo schaukelt das einsame Türchen, das aus meiner durch das Unkraut bewachsenen Vergangenheit in meine wellenreiche Zukunft führt? In welche Ferne treiben mich die unermüdlich herum schlagenden Wellen der scheinbaren Stille? Oder habe ich dieses Türchen und diese Stille schon gefunden?...
* * *

Die Ankunft


Der Zug hielt in Duisburg-Hauptbahnhof an. Maria und die Töchter stiegen als die ersten aus. Ich drang mich mit zwei Koffern durch die Wagentür hinter ihnen hinaus und hörte schon ihre Schreie auf dem Bahnsteig. Ich guckte hin und sah meine Kusine Genoefa, die ich vom Foto her kannte.

Maria und sie rannten einander entgegen mit freudiger Laute. Die Töchter gingen etwas vorsichtig hinter ihrer Mutter. Hinter Genja ging eine junge, großgewachsene und gut aussehende Frau. Sie sollte Ulla sein – meine Nichte zweites Grades.

Auf einmal war meine Anspannung letzter Stunden weg. Zum Schluss bin ich zu einzig vernünftiger Entscheidung gekommen, ein Taxi zu nehmen, die Postadresse der Tante dem Taxifahrer vor der Nase zu halten und uns zu ihr fahren zu lassen. Ein kleines Problem bliebe dann immer noch, nämlich ein Zahlungsproblem. Ich hatte ja nur zwei 500 DM-Scheine in der Tasche und konnte mir schon vorstellen, dass es für den Taxifahrer etwas zu viel zum Wechsel gewesen wäre, während die restlichen 7 DM als die Zahlung wiederum etwas zu wenig sein dürften. Aber so weit wollte ich mich nicht mehr belasten. Dies wäre schon kein strategisches Problem, denn wir hätten dann bereits unser Ziel erreicht.

Nun hatte sich auch dieses Problem erübrigt, obwohl ich immer noch nicht verstehen konnte, woher unsere Verwandten diese hellseherische Ahnung über unsere unvorhersehbare Ankunft so genau verschafften. Danach fragte ich auch – nach unseren allseitigen Umarmungen und Küssen – meine Kusine:

„Woher wusstet ihr eigentlich, dass wir mit diesem Zug ankommen? Das ist doch der falsche Zug, den wir zufällig erwischten.“

„Wir wussten es gar nicht.“ – erwiderte die Kusine, nicht weniger überrascht – „Aber du hast ja uns das Telegramm über eure Ankunft mit dem Zug ’Moskau-Aachen’ geschickt, und der Zug kommt etwa in fünf Minuten auf dasselbe Gleis an. Wir sind natürlich früher gekommen und guckten uns gerade um, als ihr uns in die Arme fielen.“

„Es gibt ihn manchmal doch!“ – dachte ich – „Und ich danke Dir, lieber Herr, dafür, dass es Dich gibt.“

Durch diese durch die Zufallumstände vorgegebene Unterhaltung war die Erwartungsspannung vor dem Treff mit den voll unbekannten Menschen gleich abgebaut worden. Sie kamen schon wieder über irgendwelche Tunnels aus dem Bahnhofbereich auf einen Platz hinaus und gingen zu einer schwarzen Limousine mit einem Stern auf dem Kühler.

„Interessant. Die Ankunft findet im selben Ton statt, wie die Abfahrt auch.“ – dachte ich, diese prächtige Limousine beobachtend, und fragte:

„Ist das ein Taxi? Es wäre doch nicht nötig gewesen. Wir könnten auch mit dem Zug oder mit dem Bus nach Hause fahren. Wie weit ist es noch zu euch nach Hause?“

„Es sind nur noch dreißig Kilometer vielleicht und wir sind in zwanzig Minuten zu Hause. Das ist ja Ullas ’Mercedes’ – kein Taxi. Ich habe sie gebeten, mit mir zu kommen und euch abzuholen.“ – klärte mich die Kusine auf.

Wir düsten in einem dreispurigen Autostrom, den Ulla ’Autobahn’ nannte, und waren wirklich in noch weniger, als zwanzig Minuten zu Hause. Das Auto hielt vor einem zweistockigen Haus in einer gemütlichen, mit solchen Häuschen bebauten Strasse.

„In welchem Stock wohnt ihr denn?“ – fragte ich, um etwas zu sagen und meine Sprachlosigkeit von der Autobahnfahrt zu vertuschen.
„Wir schlafen oben in den Dachräumen und die Mutter schläft unten – es ist leichter für sie. Unten haben wir auch das Wohnzimmer, Esszimmer und die Küche. Das ist ja unser Haus. Das erste Obergeschoss vermieten wir an ein Ehepaar aus Schlesien. Und Ulla hat ihre Mietwohnung nicht so weit von hier.“

Wir gingen durch ein Zauntürchen auf den Hof um das Haus herum. Gleich um die Ecke prallte uns entgegen eine Wand von vollblühenden Rosen.

„Ich bleibe lieber bis auf Weiteres sprachlos, statt blöde Fragen zu stellen.“ – entschied ich – „Mit dem Haus wusste ich doch Bescheid, wie mit dem Auto auch. Die Tante schrieb uns noch vor vielen Jahren, als das Paket mit der unglücklichen Hose kam, dass sie uns nicht so viel schicken können, denn sie haben vor kurzem ein Häuschen gekauft und jetzt müssen auch noch ein Auto für Ulla zu ihrer Volljährigkeit kaufen, sodass sie jetzt selbst ziemlich arm dran sind, wo auch nur noch Jakob arbeitet, und gar kein Geld haben. Wie konnte ich das vergessen.“

Eigentlich habe ich das nicht vergessen, wie die mich ebenfalls arm gemachte Hose auch. Aber das, was ich wusste, war so fremd und abstrakt im Vergleich zu dem, was ich hier erfuhr, und zu denen, die ich nun lebend sah, dass es für mich in den ersten Moment unmöglich erschien, all dies in einem Zusammenhang zu betrachten.
*

Aus der Haustür kam uns entgegen ein, trotz seiner grauen Haare und schon merkbaren Glatze, sehr jung aussehender Mann mit sehr gutmutigem Lächeln.

„Jakob.“ – erkannte ich Genjas alten Ehemann und versuchte, ihn in meine Umarmung zu fangen.

„Lass erst mal deine Frauen ’ran.“ – wich er lächelnd aus – „Männer müssen sich nicht unbedingt küssen.“

Nach der Begrüßungsprozedur mit den Weiblichen reichte er mir seine Hand, begrüßte mich mit einem überraschend kräftigen Handdruck und wir gingen alle zusammen ins Haus.

Im Esszimmer stand ein großer, weißbedeckter Tisch mit acht Stühlen um ihn herum, mit acht leeren Kaffeetassen und Untertassen sowie Tellern mit Wurst, Käse und sonst noch allem zum Frühstück drauf. Dazwischen standen ein paar Kerzen angezündet.

„Woher wusstet ihr auch, dass Maria heute ihren Geburtstag hat?“ – konnte ich meine, sich offensichtlich durch ihre Gesprächigkeit äußernde Sprachlosigkeit nicht überwinden.

„O! Maria hat heute Geburtstag? Herzliche Glückwünsche. Das wussten wir doch nicht, sonst hätten wir Geschenke besorgt. Aber der Tag ist noch lang und wir gehen dann später aus, sie zusammen auszusuchen. Wir wollten nur mit euch zusammenfrühstücken.“

„Verdammt!“ – war ich mir schon wieder böse „Jetzt habe ich auch noch ganz blöd um die Geschenke für Maria gebettelt.“ – und versuchte, mich aus der Situation rauszureden:

„Ne, es ist nicht nötig. Mich hat nur der so schön feierlich bedeckte Tisch irritiert und ich dachte mir, dass es Marias Geburtstag wegen sei. Sonst hat sie ja das schönste Geschenk bereits bekommen – Deutschland.“


„Wie denn?“ – fragten gewundert und fast erschrocken die drei.

„Ich habe es extra so geplant, dass wir nach Deutschland an ihrem Geburtstag einreisen und ich ihr dann verkünden kann: ’Ich schenke dir Deutschland!’ Ist das nicht toll? So ein Geschenk kriegt doch nicht jeder und nicht so oft. Und es soll ja fürs Nächste für sie reichen.“

„Ach so!“ – war die erleichterte Reaktion – „Na gut. Aber wir wollen gerne auch was schenken. Gehen wir aber zuerst zum Tisch.“

„Und wo ist Tante Aliede?“ – fiel mir endlich die einzig vernünftige und längst fällige Frage.

„Mama kommt gleich.“ – sagte Genja – „Sie wollte sich schön machen für euch und es dauert etwas bei ihr. Sie ist ja seit zwanzig Jahren schon blind.“ Das wusste ich auch. Mein Vater war auch fast blind, als er vor fünf Jahren starb und Tante Aliede war zehn Jahre älter als er. Dieselbe Erbkrankheit.

„Macht ja nichts. – sagte ich locker – „Jetzt haben wir Zeit für einander. Wir sind doch für immer nach Deutschland gekommen.“

Ich war erleichtert endlich über meinen Plan offen reden zu dürfen und ihn jetzt mit von meinen Verwandten neuerfahrenen Information und Tipps fortzusetzen. Es wäre ja auch an der Zeit, das schwarze Informationsloch zu füllen. Die gleich begangene Füllung überraschte mich aber sehr:

„Was?“ – wendeten sich alle drei abrupt und gleichzeitig zu mir – „Du hast ja uns geschrieben, nur in den Urlaub kommen zu wollen. Wie lange dauert denn ein Urlaub bei euch?“

„Eigentlich einen Monat, aber wir haben noch einen Monat ohne Bezahlung dazu genommen. Ich wollte nämlich alle Möglichkeiten, hier für immer zu bleiben, prüfen und nutzen. Euch darüber zu schreiben, war schlecht möglich, denn die Auslandskorrespondenz wird bei uns gelesen. Dann hätten wir überhaupt nicht mehr fahren dürfen.“

Die drei hörten mir aber kaum noch zu und redeten mit einander auf einmal laut und schnell auf Deutsch. Wir – vier anderen hier Anwesenden – verstanden nur, dass meine freudige Offenbarung ihnen schlecht bekommen hat. Es bedarf keiner guten Deutschkenntnisse, um das zu begreifen.

Mir stieg immer mehr das Blut in den Kopf: Nach allem in diesen Plan investierten und während seiner Realisierung erlebten, war es bis jetzt die erste und überraschendste Hindernis, die ich deutlich verspürte und wahrnehmen musste.
*

„Was für ein Lärm hier?“ – fragte plötzlich ruhig und leise eine tiefe und altersüblich etwas gebrochene Frauenstimme, an die drei Streitenden ebenfalls auf Deutsch gerichtet.

Aus dem Zimmer nebenan kam Tante Aliede heraus, sich etwas gebückt und auf einen Gehstock stützend, in einem schwarzen Kleid mit weißen Hals- und Ärmelkragen an ihrem schmalen, trockenen Körper, mit vollweißgrauen, akkurat in Dauerwellen zusammengekämmten Haaren.

Und auch noch mit dem Gesicht meines Vaters – große, aber dicht am Kopf sitzenden Ohren und große Rassennase entsprachen der Proportionalität dieses langen, schmalen Gesichts und fielen gar nicht auf. Weitgeöffnete, vom Alter etwas verblasste, wasserblaue Augen schauten angespannt in die weite Ferne.

Aber wovon mir fast schwindlig wurde, war die lebendige Stimme meines Vaters. Die Stimme, deren Klang und Farbe ich bis zu letztem Unterton immer kannte und die vor fünf Jahren für immer verstummte.
*

Alles verflog aus meinem Kopf und ich fühlte mich auf der Stelle, als ob ich wie immer aus meinem Irgendwo zu Eltern nach Hause kam und noch von der Schwelle Vaters Stimme hörte, welche die vor Freude laute, weinende und lachende Mutter fragte:

„Mütterchen, was für ein Lärm? Wer ist denn da?“

„Na, dein Kleiner doch, wer denn sonst.“

„Junge! Komme mal her. Man bin ich froh, dich noch ein Mal zu umarmen.“

„Wovon redest du Pa? Du siehst doch noch sehr brav aus und wir werden uns schon noch viele Male umarmen.“

„Ach, so oft kommst du auch nicht.“

„Das ist wieder wahr. Aber es ist auch verdammt schwer zu euch zu kommen: Man fliegt Tausende von Kilometern in ein paar Stunden durch, fährt die letzten hundertzwanzig Kilometer in zwei Stunden mit dem Zug durch und bleibt in der letzten Station stecken und weißt nicht: Soll er jetzt umkehren oder doch es versuchen, diese letzten zehn Kilometer bis zu unserem Schweinebetrieb in seinen Stadtschuhen zu Fuß, bis zu Knien durch den Dreck oder Schnee zu bewältigen.“

„Ja, es wäre dafür besser vielleicht zusammen zu leben. Aber ich bin froh, dass du hier weg bist. Erinnerst du dich noch, als du noch klein warst, sagtest du immer zu uns, dass du uns zu dir nimmst, wenn du mal groß wirst.“

„Das habe ich nie vergessen und hätte es auch jetzt sofort gemacht, wenn ich nur die Möglichkeit dafür hätte. Ich scheine, immer noch nicht groß genug geworden zu sein.“

„Zerbreche dir darüber keinen Kopf. Wir fühlen uns hier schon längst heimisch und bleiben hier, solange wir beiden noch leben und zusammen durchhalten können.“

Das war das letzte Mal, als ich Vaters Stimme gehört hatte – im Spätherbst vor seinem Tod.
*

Meine Kusine antwortete der Tante etwas in zwei oder drei Sätzen, immer noch aufgeregt.

„Wir wollten doch zusammen frühstücken.“ – unterbrach Tante Aliede ihre Tochter auf Deutsch, drehte sich zur Seite und fragte fröhlich auf Russisch vor sich hin:

„Na, wo sind sie denn?“

Meine Familie, die vor dem Antritt der Tante durch die allgemeine Aufregung angespannt und ganz still geworden war und sich unbemerkbar zu machen versucht hatte, strahlte plötzlich von dem Lächeln der Tante und rannte fast zu ihr. Die kleinere Tochter war die erste. Nach der Umarmung schob Tante Aliede sie etwas von sich weg, berührte ihre Haare und ihr Gesicht:

„Du sollst die kleine Olga sein.“ – nicht fragte sondern stellte sie fest.

„Wie haben Sie mich erkannt?“ – freute sich Olga.

„Spreche mich nie wieder mit ’Sie’ an. Wir sind die nächsten Verwandte und keine fremden Menschen, denen du ’Sie’ sagen musst. Bei uns, Deutschen, duzt man unter Verwandten.“

Bei der älteren Tochter, die einen Kopf größer als die Tante war und sich beugen musste, um sie zu umarmen, ging es mit derartigen Feststellung schief:

„Maria!“ – meinte die Tante.

„Ne-e.“ – lachte, nun ganz entspannt, die Tochter – „Ich bin die ältere. Helena.“

„Mein Gott bist du groß! Du bist ja nur Fünfzehn?“

„Ich werde es in einem Monat erst.“ – erwiderte Helena mit ihrer tiefen, noch jugendüblich gebrechlichen und dadurch der Tante etwas ähnlichen Stimme, immer noch froh lachend.

„Ich bin Maria.“ – trat meine Frau mit ihrer Umarmung als die nächste vor.

„Du bist aber eine schöne Frau. Ich frohe mich für Viktor.“ – sagte mit weiser Schlichtheit Tante Aliede nach derselben Tastprozedur und fragte:

„Na wo ist der junge Bursche selbst?“

„Ich muss ja immer hinter drei meiner Weiblichen Schlange stehen, liebe Tante Aliede.“ – versuchte ich zu scherzen, obwohl mich die Träne fast erdrückten, und nahm meine Tante in die Arme – „Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich freue, dich zu sehen. Du bist meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten und sprichst genau so, wie er sprach. Sein Gesicht sehe ich und seine Stimme höre ich seit fünf Jahren nicht mehr.“

„Komme her.“ – nahm Tante Aliede mein Gesicht in ihre langen und einfühlsamen Finger und fühlte es etwas länger – „Dein Gesicht erkenne ich auch wieder. Du sollst deinem Vater auch sehr ähnlich sein. Erzähle mir alles später. Jetzt sag mir nur, wie ihr diese lange Reise überstanden habt, und setzen wir uns endlich zum Tisch: In Beinen gibt es ja bekanntlich keine Wahrheit.“ – glänzte sie überraschend und stolz lächelnd mit einem russischen Sprichwort, das genau für solche Angelegenheiten galt und deswegen genau richtig saß.

Ihr Russisch mit leichtem deutschen Akzent, aber in merkbarem ukrainischem Dialekt war ebenfalls genau das Russisch von meinem Vater einschließlich spezieller Wörtchen und Redewendungen.

„Das heißt die Blutverwandtschaft.“ – dachte ich, von meinen Gefühlen überfüllt und völlig aus der Bahn geworfen – „Das heißt, aus einer Quelle zusammengetrunken zu haben.“
*

Nach dem ausgiebigen Frühstück bei Kerzen am sonnigen Tag gingen wir in die für uns im Dachgeschoss vorbereiteten Zimmer – eins für mich und Maria, eins für die Töchter. Wir waren ziemlich müde und wollten uns nach den nächtlichen Reisestrapazen etwas ausschlafen.

Das dritte Zimmer, zwischen unseren beiden, war Schlafzimmer von Genja und Jakob. Hier war auch die Toilette mit der Dusche, wo alles für uns auch vorbereitet lag – Handtücher, Badetücher usw. Wir wurden ausführlich instruiert, wie man das alles benutzen soll. Vor allem, dass wir uns im Waschbecken waschen können, wenn wir den verstöpseln und mit Wasser voll laufen lassen, denn das Wasser ist teuer, um sich im fließenden Wasser zu waschen.

Nach dem Schlaf sammelten wir uns alle wieder am Tisch zum Mittagessen. Während des Essens sprach Tante Aliede mich an:

„Was hast du dir vorgenommen, um deine Bleibepläne zu verwirklichen?“

„Ich habe ein paar Adressen von Firmen und Universitäten, die in meinem Fachbereich arbeiten und die ich anschreiben wollte, um mich zu bewerben.“

„Und wie viel Zeit brauchst du dafür?“
„Mindestens einen Monat, denke ich, bis ich auch ihre Antworten erhalte. Während dessen wollte ich noch die anderen Möglichkeiten prüfen, zum Beispiel, mich bei Deutschem Rotem Kreuz darüber erkundigen.“

„Und wenn es nicht klappt?“

„Dann müssen wir wohl oder übel zurückfahren. Mein Ziel war es eigentlich nicht, so viele Kerzen beim Essen bei euch zu verbrennen. Ich bin nicht daran gewöhnt, tatenlos und faul rumzusitzen.“

„Gut. Du kriegst deinen Monat und damit ist die Sache erledigt“ – schaute die Tante ihre Tochter blind an, die sehr gespannt unser Gespräch verfolgte, obwohl sie dabei sehr tüchtig aß und ununterbrochen in ihren Teller zu gucken versuchte.

„Danke Tante.“ – wusste ich ehrlich, mich bei ihr nach der vorigen allgemeinen Aufregung zu bedanken.
*
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Zehn Jahre danach


„Der Günther ist frisch verliebt.“ – teilte mir Elena mit, als ich eines sonnigen Tages, von Durst getrieben, vorbei an einem ihren Tische auf dem Bürgersteig strandete.

„Was soll das jetzt heißen? Hat er eine neue Freundin oder was?“

„Na eine neue hatte er immer. Aber nun ist er richtig verliebt. Er hat es mir selber gesagt ‚Elena, ich bin glücklich, wie nie zuvor!’. Es ist auch mit bloßem Auge zu sehen. Er ist die letzte Zeit wie bescheuert.“

„Das ist doch gut so für Günther.“

„Weiß ich nicht. Du kennst ja auch diese Frau – hier mal gesehen. Da stimmt was nicht. Wenn du meine Meinung wissen willst, es liegt am Sex.“

„Was? In Günthers Alter! So etwas passiert normalerweise einem Jüngling, du weißt schon – nach dem Motto ‚Wenn ich es früher wüsste, dass er überall rein passt!’ – aber nicht doch einem über Vierzig.“

“Dachte ich mir immer auch, aber es scheint doch Günther erwischt zu haben, und, ehrlich gesagt, hat er mich enttäuscht.“

“Wieso denn? Es ist ja andererseits beneidenswert, wenn Günther sich immer noch vom blauen Wunder überraschen lässt.“

So eine Unterhaltung mit Elena macht mir immer Spaß. Sie hat ihre tiefe, vom Rauchen etwas raue Stimme und sehr charmanten Akzent. Sie betreibt mit ihrem Gatten Paulo eine kleine Pizzeria in unserer Gegend, und man fühlt sich bei ihr sehr wohl – wie in Mamas Küche, pflege ich immer dazu zu sagen..

Günther habe ich vor einiger Zeit auch hier bei Elena kennen gelernt. Günther trägt einen schwarzen Vollbart und lange auf seine Schulter niederwellende Haare. Auf seinem Gesicht mit angeschwollenen Venen über der Stirn leuchten überraschend grell blaue, als von einem Innendruck hervorragende Augen. Kurz um, abgesehen von seinen blauen immer lachenden Augen, hat er das Antlitz Jesu Christi vor seiner Kreuzigung,.

Angesprochen hatte er mich bei unserer ersten Begegnung. Er trank sein Rotwein an der Theke und ich aß am Tisch hinter ihm. Da kam Paulo rein, grüßte mich dann Günther und flüsterte ihm, sodass es in jeder Ecke dieses engen Raum zu hören war:

“Das ist Viktor, er ist übrigens Physiker und sogar Doktor!“

Ich war gerade mit dem Essen fertig und bestellte mir einen Grappa.

Nach Paulos Auskunft schrie Günther begeistert laut:

“Ba! Viktor? Ich bin Günther. Bist du wirklich Physiker?“

Und dann zu Paulo:

“Und er sitzt hier, sich so zurückgezogen!“, dann wieder zu mir:

“Komm doch hierüber, wir trinken einen zusammen. Ich studierte auch mal Chemie, nur ein paar Semester, dann ausgeflogen.“

„Macht nichts. Um einen zusammen zu trinken, ist das gar nicht so wichtig. Die Hauptsache – der Mensch ist nett.“ – sagte ich und zog mit meinem Glas zu Günther an die Theke um.“

„Wieso habe ich dich noch niemals hier gesehen?“

„Das kann ich dich auch fragen. Eigentlich bin ich seit wenigstens zwei Jahren öfter hier. Anscheinend tranken wir dabei an einander vorbei.“

„Seit wann wohnst du denn überhaupt hier und wo kommst du her?“

“Du stellst aber eine Menge Fragen.“

„Darf ich nicht?“

„Das kommt ganz darauf an, mit welchen Antworten du dich zufrieden gibst. Zum Beispiel, ich bin genau vor drei Jahren aus Steglitz hierher umgezogen. Zufrieden?“ Günthers Gesicht Christi drückte nichts außer äußersten Erstaunens aus.“

„Ne. Ich meine, wo kommst du nach Berlin her.“

„Weißt du, Günther, du bist ein netter Kerl, und ich will dich nicht weiter verarschen und auf dem Folter spannen. Deine Fragerei macht mir nichts aus. Du bist auch nicht besonders originell dabei. Ich habe mich schon daran gewöhnt, von jedem, den ich gerade kennenlerne, höchstens nach einer fünfminütigen Plauderei diese Frage gestellt zu bekommen. Ich beantworte sie je nach meine Laune. Wenn ich gut drauf bin, sage ich einfach ‚Aus Ruhrgebiet’, was auch stimmt – ich bin nach Berlin aus Nordrhein-Westfalen vor bereits sieben Jahren wegen meiner Arbeitstelle umgezogen, und genieße nach dieser Antwort den völligen Ausfall meines Interviewers.“

„Ach Viktor, das war doch nur so eine Frage. Es ist mir eigentlich scheißegal, wo du herkommst.“

“Wäre es so, hättest du mich auch nicht gefragt. Aber, es ist in Ordnung – liegt ja an meinem Akzent mit diesem russisch hartrollenden „R-r-r“.“

„Dann bist du also Russe.“

„Falsch. Das bin ich grundsätzlich nicht, wenn ich auch aus Russland herkomme. Ich bin Deutscher aus Sibirien.“

„Das ist ja in Ordnung, Viktor.“ – fand Günther angebracht, diese großzügige Bemerkung zu machen.

„Meinst du es wirklich? Für mich war es nie in Ordnung, als Deutscher im sibirischen Dreck geboren zu sein und sich dann während vierzig Jahren heraus bis nach Deutschland durchboxen zu müssen.“
*

Interessant ist, dass die ganze Kundschaft in dieser italienischen Pizzeria bei Elena fast ausschließlich aus Deutschen besteht. Aber während dieser Zeit, die ich selber hingehe, finde ich es doch ganz logisch. All die Menschen, die in unserer Gegend leben, haben ein starkes Familienzugehörigkeitsgefühl. Das heißt, wenn ein Türke sich eines Abends einsam fühlt, was an sich kaum vorstellbar ist, denkt er nicht an eine Kneipe, die ihm den erträumten Gemüht liefern kann, sondern eher an seine Familienangehörigen, die er auch immer reichlich da und nie satt hat. Dies betrifft auch Italiener und alle anderen, die in unserem Kiez präsent sind.

Die Deutschen denken in ihrer Einsamkeit, welche sie sich selbst - wie auch alles Andere, was eben zu deutschen Tugenden gehört, - zu zuschreiben haben, an nichts anderes, als weiter einsam zu bleiben, nur aber nicht allein. Man baut und baut die Barrieren auf, um sich vor Eindringlingen in ihr privates Leben zu schützen, und dann merkt plötzlich diese unermessliche und unerträgliche Einsamkeit.

Elenas Pizzeria – ein enger und knapper Raum nur mit zwei Tischen neben der Theke mit fünf Hockern – war für mich so etwas wie Fortsetzung meiner Küche in der Wohnung gleich um die Ecke. Sie war auch ein Treffpunkt mit allen benachbarten Freunden, Bekannten und Unbekannten. Für diese Begegnungen musste man keine Termine vereinbaren. Man ging einfach hin – wenn ein Abend mal so lang wurde, dass dir die Decke auf den Kopf fiel – und dort saß schon einer oder anderer der gleichen Abendflüchtlinge, den Rest des Abends mit Bier vernaschend.

Wenn noch keiner dasaß, hatte man die Gelegenheit den letzten Stand der Dinge bei jedem der Abwesenden oder wenigstens die Höhepunkte und die Schlagzeilen, wie die geradeeben über Günther, von Elena zu erfahren und teilnahmsvoll auszudiskutieren. Das machte unser gesellschaftliches Kneipenleben lückenlos gefüllt. Egal, ob du hier einen Abend oder eine ganze Woche verpasst hattest, warst du immer auf dem Laufenden. Und schon während Elenas Einführung kamen nach und nach die Helden dieser Berichte persönlich zum Vorschein.

Die Gemütlichkeit, ’wie in Mamas Küche’ – wie ich immer vor Elena charmierte und somit bei ihr Pluspunkte sammelte, begann direkt an der Schwelle oder auch im Sommer, wenn ein paar Tische draußen auf dem Bürgersteig ausgestellt wurden, noch lange davor. Die Tür hinter dir ging noch nicht zu und dein Mund mit ’Hallo allesamt!’ noch nicht auf, als du schon von allen so routiniert und dadurch so heimisch begrüßt wurdest, als ob du aus einer langen Reise – was bei mir oft auch der Fall war – endlich heimgekehrt warst und alles so unverändert vorfand, wie du es vor langem hinterlassen hattest.

Der Raum war so klein, dass sich keiner hier in einer Schattenecke vereinsamen konnte, was zu versuchen an sich zu blöd gewesen wäre, denn von der Einsamkeit hatten wir doch zuhause genug. So waren alle Anwesenden in dem nachfolgenden Begrüßungsgespräch zunächst beteiligt. Dieses bestand nicht aus blöden und belanglosen Fragen von der Sorte ’Na, wie geht es dir?’, hinter denen man sofort die Angst des Fragenden verspürt, dass du ihn jetzt – leider Gottes! – darüber zu berichten beginnst, wie es dir beschießen geht, sondern griff gleich auf die Themen und Situationen des letzten Treffens oder auf das von Elena erfahrene Laufende. In Günthers Falle wäre es zum Beispiel so gewesen:

„Na Günther, hat dich die große Liebe noch nicht umgebracht oder hast du dem Mädchen auch schon den Kopf verdreht?“

Hier ging es nicht um Taktgefühle und um einen feinen Umgang. Hier war ein Verarschungsversuch hinter jeder Frage, hinter jeder Antwort und hinter jedem Wort von vorne rein zu erkennen, der einen einzigen Zweck hatte, alles und alle zum Lachen zu verdrehen und auf keinen Fall irgendwelche Seifen- oder Schleimgeschichten an sich heranlassen. Was intim bleiben sollte, sollte draußen intim bleiben und jeder hatte selbst dafür Sorge zu tragen. Hier stand jeder im grellhellen Licht, in das er sich selbst brachte und in ihm selbst vielleicht stehen wollte.

Manche Geschichten, die dann noch lange Zeit den Scherzstoff lieferten, spielten sich auch hier vor Augen der anderen ab. Die letzte Zeit werde ich hier, zum Beispiel, mit der Frage begrüßt:

„Na du, hast du schon zuhause gekocht?“, während Paulo mit Ruf angesprochen wurde:

„Na du, Spielverderber, bringst du mir noch ein Bier?“

Wie schon gesagt, Paulo war Elenas Gatte, der tagsüber bei einem Sägewerk arbeitete und abends Elena zu Hilfe kam, den überfüllten Laden zu schmeißen. Er war ein kleiner, sympathischer, immer lächelnder Sizilianer, der die schöne Elena vor zwanzig Jahren in einem Hotel in Bukarest, wo sie als Hostesse ihre Brötchen verdiente, aufgegabelt, mit seinem kapitalistisch-sizilianisch-dörflichen Charme erobert und anschließend auch geheiratet hatte.

Durch diesen Heirat und die nachfolgenden grenzüberschreitenden Abenteuer entführte er Elena dem kommunistischen Regime und der gefürchteten Securitate, brachte sie zuerst nach Sizilien und wanderte von dort dann später mit ihr zusammen nach Deutschland aus, mit der immer und bei allen fehlschlagenden Absicht, hier schnell etwas Geld zu verdienen und wieder heimzukehren. Aus dieser Absicht sind inzwischen fünfzehn Jahre in Deutschland mit kurzen Sommerurlauben auf Sizilien bei Paulos Familie geworden.

Paulo wirkte viel älter als Elena, was er aber nicht war. Vielleicht war er einfach immer sehr müde hier abends, seine zweite Schicht zu schieben. Dies führte auch immer dazu, dass er uns nach zwölf Uhr immer hinausdrängte, um mit Elena endlich schlafen zu gehen. Die Prozedur dauerte zwar noch eine halbe Stunde durch die darauffolgenden Diskussionen und Überzeugungsbemühungen, dass er ruhig alleine schlaffen gehen darf und wir hier ohne ihn auf Elena gut aufpassen können, aber dann gaben wir doch mit Worten auf:

„Ach gehen wir doch lieber, solange dieser sizilianische Mafioso uns alle nicht umgebracht hat.“

Aber "Spielverderber" wurde er nicht deswegen genannt. Die Sache war die. Eines Sommerspätabends saßen ich und Klaus mit den anderen noch Übriggebliebenen, welche sich noch nicht nach Hause ins Bett zu begeben trauten, aber sich noch etwas von diesem Abend vielleicht heimlich versprachen, draußen vor Elenas Tür auf dem Bürgersteig und beobachteten, sich hinter den Biergläsern versteckend, die vorbeiflanierenden, sommerüblich halbnackten Passantinnen.

„Bin ich blind oder es kommt wirklich eine tolle Frau auf uns zu?“ – fragte ich den mit mir am Tisch sitzenden Klaus, mein Bierglas abstellend und die schlanke kleine Frau direkt anschauend, die sich währenddessen mit etwas unsicherem Gang unserem Tisch näherte und das Ende der von mir absichtlich laut gestellten Frage mit Sicherheit mitbekam.

„Du erzählst doch immer, dass du blind sei, aber jetzt sehe ich, dass du dabei lügst.“ – spielte Klaus mit.

„Redet ihr über mich?“ – blieb die Frau an unserem Tisch stehen und lächelte uns an.

„Wollen sie sich vielleicht sicherheitshalber zu uns setzen? Zu so einer Spätstunde darf man sich nicht so rücksichtslos auf seine Beine verlassen.“ – sprach ich nun direkt die etwas wackelige Frau an. – „Den juten Wein jiebt’s auch im Angebot.“

Die Frau ließ sich auf einen freien Stuhl an unserem Tisch nieder.

„Bevorzugen sie den Roten oder den Weißen?“ – fragte ich sie vornehm.

„Rot, wenn es geht.“ – die Frau wirkte jetzt plötzlich sehr müde, nachdem sie an unserem Tisch strandete. Sie zog meine Aufmerksamkeit auf der Straße wahrscheinlich dadurch an, dass sie einen dunklen, sie eng umfassenden Abendkleid anhatte. Jetzt merkte ich aber auch, einen kleinen dunklen Fleck direkt auf ihrer Nasenspitze, als ob sie auf die Nase gefallen und deren Spitze am Asphalt abgerieben hätte.

„Hier geht’s alles.“ – versicherte ich ihr stolz und schrie durch das offene Fenster zu Elena hinein – „Elena, bitte einen deiner besten Rotweine für die Dame und noch zwei Biere für uns.“

Aus der Tür kam Toni heraus – Elenas Küchenchef und der einzige Küchenknabe in einem – und verabschiedete sich von uns.

„Schon Feierabend?“ – fragte ich, mich darüber traditionell, wie jeden Abend auch, äußerst wundernd.

„Was heißt ‚schon’?“ – lachte der durch meine Frage traditionell entsetzte Toni – „Es ist schon elf Uhr und ich sollte eigentlich um zehn schon Feierabend machen.“

„Na dann einen schönen Feierabend, wenn du ihn zuhause schöner findest, als hier bei uns.“

Toni mit seiner athletischen Figur und seinem netten, etwas bubenhaften Gesicht ging weg die Straße hinauf. Auf dem Rücken seines T-Shirts stand stolz schwarz auf weiß geschrieben: „Ich bin doch nicht blöd, um zu studieren.“

Die Frau trank ihren zwischendurch von Elena hergebrachten Wein und meinte:

„Jetzt hätte ich aber gerne etwas gegessen.“

„Oh! Hier geht’s zwar alles, aber zum Essen kriegst du leider zu dieser Stunde nichts mehr. Du hast ja gesehen, dass Toni gerade gegangen ist, und er ist der Koch hier.“ – redete ich ihr ein, plötzlich begreifend, dass der Abend nun wirklich noch lange nicht zu Ende ist und sein Rest noch etwas mit sich bringen kann.

„Doch wir haben noch etwas von Pizza in der Küche übrig.“ – verkündete Paulo, der aus dem Schiebefenster seinen Kopf hinaus steckend stand und alles mitkriegte.

„Du Spielverderber!“ – zischte ich ihm über die Schulter hinüber und sprach weiter zu Frau – „Ich sage ja, hier kriegst du nichts. Aber ich habe zuhause – und dieses ist hier, gleich um die Ecke – einen tollen, heute gekochten Sauerkrauteintopf stehen. Wenn du wirklich Hunger hast, hast du nur bei mir eine Chance, ihn richtig zu stillen, statt sich hier mit irgendwelchen Überresten von Tonis Kochkunst zufrieden zu geben, die du einer Dame anbietest.“ – schielte ich mit einem verabscheuenden Blick wieder zu Paulo.

„Ehrlich gesagt habe ich den ganzen Tag nichts außer Alkohol zwischen den Zähnen gehabt.“ – sagte die Frau, als ob sie sich bei Paulo dafür entschuldigen wollte, dass sie meinen Eintopf seinen Resten bevorzugte, oder, als ob sie sich selbe davon überzeugen wollte.
„Na dann wollen wir.“ – stand ich auf und zeigte die Richtung.

Die Frau stand ebenfalls auf und ging vor.

„Du alter Sexualverbrecher!“ – murmelte lachend Klaus in meinem Rücken – „Willst du etwa wirklich den Hunger dieser armen, besoffenen Frau ausnutzen?“

„Halt die Klappe!“ – reagierte ich sofort zurück – „Erstens, ich will sie nur vorm armseligen Verhungern hier, mitten auf der Straße, retten. Du kannst ja das sowieso nicht tun, weil du doch nie zuhause kochst und selber ohne Elena längst verhungert hättest. Zweitens, so besoffen ist sie – im Unterschied zu dir – auch nicht. Also rede keinen Quatsch, du alter Säufer, und Tschüss. Wir sehen uns morgen.“

Ich ging und hörte schon hinter mir, wie sich die anderen Trinkkameraden amüsierten und einer schrie gleich zu Paulo:

„Na du, Spielverderber, gibst du mir noch ein Bier oder was?“

Die Frau bekam bei mir ihr Essen, zu dem wir beiden noch etwas Wodka tranken. Sie war mit ihrem Teller noch nicht fertig, als ihr Interesse am Essen schon vorbei war. Sie schaute mich zum ersten Mal so direkt und fast gierig an, dass jedes der mir von Klaus eingejagten Bedenken bei mir verflog und ich auf den Gedanken kam: „Jeder Mann glaubt naiv, der Jäger zu sein. Ich glaube aber nicht, du blöder Klaus, dass ich hier derjeniger Ausnutzer bin.“

Unter ihrem Blick wurde mir auch bis zum Zittern schwindlig – die Erscheinung eines nächsten ziemlich langen Entzugs – und, ohne noch etwas zu reden, waren wir im nächsten Moment ausgezogen und im Bett.

Die nun total erschöpfte Frau schlief gleich danach ein und mich ergriff auf einmal ein unangenehmes Gefühl, wie in meiner Kindheit, wenn ich etwas unrechtes getan hatte und mich dann Schuldgefühle vor meinen Eltern plagten. Die abgeriebene Nasenspitze störte mich noch während Vögelns bis zum Ekel und ich hätte jetzt die Namenlose am besten rausgeschmissen.

Das war eigentlich lächerlich. Ich hatte schon lange keine Eltern mehr und sonst keinen, dem ich eine Rechenschaft oder sonst etwas schuldig geblieben wäre. Ich war allein und manchmal sehr einsam. Nur war ich nicht mehr durch diese Einsamkeit krank, wie ich es in meiner Kindheit war. Ich konnte sie fast genießen und versuchte, aus ihr das Beste zu machen. Sie belebte meinen etwas verlorengegangenen und in seinem Rest etwas abgestorbenen Geist und brachte mich auf philosophische Gedanken.

Schon wieder der schwarze Humor des Schicksals, an dessen lebensbeeinträchtigendes Vorhandensein ich allmählich zu glauben begann: Wovor man sein ganzes Leben lang flieht, dort kommt er schließlich auch hin. Ich floh seit klein auf krankhaft vor jeder Einsamkeit und genieße sie jetzt in vollem Maße, als ob ich mich mein ganzes Leben lang nach ihr strebte. Keiner kann Seinem entfliehen! Auch ich nicht, der immer zu glauben hatte, sein Leben selbst zu gestallten und zu kontrollieren, ohne es einem abstrakten Schicksal zu überlassen.

Es war auch deswegen lächerlich, weil ich in die letzten Jahren gelernt hatte, über meine Prinzipien – in allgemeinem und speziell auch auf die Liebe bezogen – nicht bei jeder alltäglichen Angelegenheit – wie zum Beispiel bei einem Toilettengang – den Kopf zu zerbrechen und zu stolpern. – Noch eine gewisse Weisheit und ein Vorteil des Alters.

Ich ging unter die Dusche. Dies tat mir gut, spülte den Ekel ab und schaffte mir einen kühlen und kühnen Blick auf die Dinge. Ich ging in die Küche, trank noch Wodka und rauchte. Dann ging ich wieder ins Bett und schlief wie ein Kind ein.

Erwachte ich von einem wilden Trieb – die Frau war schon hellwach, schien bereits unter der Dusche gewesen zu sein und fummelte nun an meinen Intimitäten rum. Was ich gestern mit ihr gemacht hatte, machte sie jetzt mit mir. Sie bestieg mich und ritt auf mir wild wie eine Amazone, bis sie schließlich, stöhnend, wieder auf das Bett umkippte.

Dagegen hatte ich auch nichts einzuwenden, obwohl ich mich nachts in der Küche dafür entschied, sie gleich frühmorgens schnellstmöglich, aber anständig, nach dem gemeinsamen Frühstück, loszuwerden.

Sie lag nun neben mir und erzählte, dass sie noch in der Nacht vor unserer Begegnung einen mächtigen und für ihre Nase schädlichen Krach mit ihrem Freund gehabt hatte, der die besoffene Frechheit aufgewiesen hatte, mit einem fremden Weib nach Hause, in ihre gemeinsam gemietete Wohnung, zu kommen, wo sie auf ihn den ganzen Abend gewartet hatte. Nachdem die Auseinandersetzung den gefährlichen Ausmaß angenommen hatte, war sie aus der Wohnung verschwunden, nur ihr bestes Kleid angezogen und das Schlachtfeld den beiden überlassend. So war sie dann den ganzen Tag ohne den Wohnungsschlüssel und zum Schluss auch noch ohne Geld durch die Straßen herumgetrieben.

„Eine alberne Geschichte, die hier jeden Abend und unter jedem Dach passiert und die wandernden Scherben der typisch menschlichen Verhältnisse herumtreibt.“ – dachte ich mir, an der Geschichte nicht besonders interessiert, ihre Absicht womöglich böseahnend und mich an meinen nächtlichen Beschluss in der Küche jetzt ausdrücklich erinnernd.

Die Frau schien wirklich, sich von dieser Scherbenbegegnung etwas mehr zu versprechen, was mir natürlich gar nicht in die Tüte passte.

„Ich kenne solche Männer. Jetzt, wo er mit dem schrecklichen Kater aufgewacht ist und das fremde Weib rausgeschmissen hat, läuft er herum und sucht wie ein angepisster Hund nach deinen Spuren, weil er all dies eigentlich nicht gewollt, nur durch Trunkenheit etwas Kontrolle verloren hatte und dann in den Zugzwang geraten war und dich geschlagen hatte, um sich vor dem fremden Weib nicht zu blamieren.“ – versuchte ich die Hoffnungen der Frau, die nun Saskia hieß, umzuleiten – „Tut er dir nicht leid? Willst du nicht gleich zu ihm gehen und es hinter euch bringen? Du hast schließlich auch deine Sachen dort liegen und sollst dich irgendwann umziehen.“

„Hast du kein T-Shirt für mich?“

„Für dich? In Ordnung, eins kannst du haben.“ – stand ich auf und überreichte ihr ein weißes T-Shirt aus dem Schrank. – „Ziehe es an und wir gehen frühstücken.“


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