Viktor Eduard Prieb - Literatur
- Prosa



Der Kleine





Ein Kinderbuch

von Viktor Eduard Prieb

(alias Deda)




geschrieben für meine Enkelkinder Konsti und Klara
und ihnen gewidmet







Berlin 2005

An Rändern der Welt

Die Sonne schlich um die Ecke der Holzhütte, schaute in ein kleines Fens-terchen über die um die Hüttenaußenwände herum hoch geschüttete und ver-dichtete Erde, schnüffelte etwas über das aufgewühlte Bett, fand das weiße Köpfchen des Kleinen und blieb auf ihm stehen. Der Kleine wachte mit ei-nem Glücksgefühl auf und ein grundloses Lächeln regte Sommersprossen in seinem verschlafenen Gesicht.


Eine Milchkanne aus Ton mit frischer Milch erwartete ihn auf dem Tisch. Der Kleine stürzte aus der Hütte hinaus, pflückte heftig gleich hier auf der Hügel-lehne, auf der die Hütte stand, eine Handvoll wilder Erdbeeren und lief wie-der in die Hütte zurück. Er schüttete die gepflückten Erdbeeren in eine Schüssel hinein, gab Milch aus der Tonkanne dazu und löffelte dann schnell und schmackhaft sein Frühstück aus. Den Kleinen wirbelte in die Luft der Wunsch nach Leben und Aktion! Heute musste er unbedingt den letzten Rand der Welt erforschen.

Der Kleine und seine ganze Familie lebten auf einem „Landgut“. Kein anderer wusste etwas davon, denn nur der Vater nannte es so. Er brachte dieses Wort aus seiner Kindheit mit, die er auf dem Landgut seines Vaters in einer der deutschen Kolonien im Südrussland irgendwo weit weg vom „Gut“ des Kleinen in Sibirien verbracht hatte.

Dieses Wort bildete unter mehreren anderen die spezifische Familiensprache. Diese Sprache stellte ein Kauderwelsch dar, dem Russisch zugrunde lag. Dieses Russisch wurde aber mit vielen Worten, Sprüchen und Ausdrücken aus den deutschen, ukrainischen und polnischen Sprachen gemischt, welche der Vater sprach, und mit dem Smolensker von der Mutter herbeigeführtem volkstümlichem Dialekt gewürzt. Dieses Kauderwelsch saugt die ganze geo-graphische und ethnische Geschichte der Familie ein und spiegelte diese wi-der.

Das Ganze wurde noch obendrein durch geflügelte Wörtchen und Redewen-dungen bereichert, die aus den zusammen gelesenen Büchern stammten und in der Familie – meistens durch Vaters leichte Hand – eine Gattungsbedeu-tung gewannen. Die gemeinsamen Lesungen fanden oft abends statt beim flackernden Licht des Ofens oder einen brennenden Keines, in Schmalz geleg-ten Dochts und später auch einer Kerosinlampe. Die Ereignisse im Buch wa-ren auf diese Weise immer durch die Wärme des Feuers, den Geruch des brennenden Fetts oder Kerosins begleitet und wurden dadurch wunderbar gefärbt. Der Vater organisierte diese gemütliche Lesungen, denn er selbst konnte schlecht sehen, die Mutter kaum und der Kleine noch nicht lesen. Al-so waren die älteren Geschwister als Vorleser dran, die bereits zu Schule gingen. Denen machte es natürlich nicht so viel Spaß wie dem Kleinen, der als Erste danach verlangte.

Das „Gut“ war einst eine kleine Siedlung gewesen, zwei Kilometer von einem größeren Dorf entfernt. Diese schrumpfte mit der Zeit bis auf diese letzte Hütte, in welcher die siebenköpfige Familie des Kleinen hauste. Das große Dorf selbst hatte nicht einmal einen vernünftigen Namen. Es hieß „Zentralab-teilung des Tschebulinsker sowjetischen Landwirtschafts- und Schweinebe-triebs“, während das „Gut“ mit der mittlerweile ausgedienten Rinderfarm und dieser verlorenen Hütte als „Die 2. Abteilung“ dieses Betriebes bezeich-net wurde.

Der Schweinebetrieb mit allen seinen Abteilungen war ein kleines Baby-lon, besiedelt und bedient von vertriebenen, verurteilten und diesem Betrieb zugeteilten Deutschen, Tschetschenen, Kalmücken und sonstigen „Verbre-chernationen“ des sowjetischen Staates nebst Russen selbst.

Die Hütte bestand aus einem einzelnen Raum mit dem russischen Ofen in der Mitte, auf dessen warmen Rücken viel Platz zum Spielen und zum Schlafen war. Sie stand auf einer breiten und offenen, nicht besonders steilen Hügel-lehne, die durch das starre Steppengras bewachsen und am oberen Rande durch weißes Federgras gesäumt wurde. Dieses Grasfeld begann direkt vor der Hüttentür des Kleinen. Eben dieses Feld lieferte ihm die Erdbeeren zum Frühstück.

Der Hütte gegenüber, so etwa fünfzig Meter nach oben von ihr, stand eine Gruppe alter unberührter Birken, zwischen denen man einen Haufen Holz-kreuze sehen konnte. Das war der Friedhof. An dem vorbei und weiter über das Ackerfeld, welches in verschiedenen Jahren mal mit Weizen, mal mit Roggen besät wurde, führte ein Pfad, den der Vater immer benutzte, als er zur Arbeit im großen Dorf ging.

Von der Hütte nach unten führte der Pfad zu einem Ziehbrunnen und weiter hinunter – schon kaum zu sehen – zu einem kleinen, im Frühling zum See werdenden und im Sommer völlig austrocknenden Torfmoor, welches kleine Grashügelchen, Weide- und Johannisbeersträucher reichlich bedeckten.

Links vom „Gut“, einen halben Kilometer von ihm entfernt dort, wo die Sonne aufging, öffnete sich dem Auge ein Stück Landstraße, die auf die gegen-überliegende Hügellehne hoch und nach links kletterte. Und rechts von der Hütte ging die Sonne hinter einem kleinen und hellen Birkenwald unter. Der Wald lief links mit dem Moor und rechts oben mit dem Ackerfeld zusammen. In diesem Wald versteckte sich eine alte, neben dem Friedhof an der Hütte vorbei führende und sich an der Hütte mit dem Pfad kreuzende, durch Pfer-dekarren befahrene und mit Wegerich bewachsene Feldstraße.

Dieser ganze Raum vereinte sich im Bewusstsein und in der Seele des Kleinen sowohl in seinen Hof als auch in die ganze Welt. Das war auch sein persönli-cher Besitz. Er hatte ihn gut erforscht und wusste genau, was sich dort an den Rändern dieser Welt befindet.

An einem Rande hinter dem Wald, wohin der Feldweg führte, war der Wo-chenmarkt, zu welchem der Vater und die Mutter eines Sonnabends im Früh-ling hinter der Sonne her weggingen. Aber die Sonne haben sie nie eingeholt, denn als sie, morgens zurückkehrend, auf dem Waldrand erschienen, ging die Sonne bereits ihnen entgegen an dem anderen Rande auf.

Dafür hing aber hinter Vaters Schultern ein lebendiger und schrecklich quie-kender Sack. Zu Hause wurden aus diesem zwei kleine und rosige Ferkel mit kleinen in Ringe zusammengerollten Schwänzchen ausgeschüttet. Das Letzte-re, mit den in Ringe zusammengerollten Schwänzchen, war besonders wich-tig, denn wenn der Schwanz auseinander rollte und wie ein Schnürchen zum Boden herunter hing, machte sich der Vater Sorgen. So ein Ferkel fraß nichts oder, wenn doch, schlürfte es nur die Brühe, und den Satz ließ dieses auf dem Schüsselboden liegen. Der verärgerte Vater nannte so ein Ferkel dann „räudiges Ferkel“, was übrigens zu Vaters Gattungsbegriffen in der Famili-ensprache gehörte und den Kleinen selbst sehr wohl mal treffen konnte.

Und im Herbst gingen der Vater und die Mutter auf demselben Feldweg wieder fort. Manchmal fuhren sie auch mit einem kleinen Pferdekarren, wenn einer aus dem Betrieb zu leihen war. Sie nahmen Speck oder Kartoffeln, oder sonst noch etwas mit, was eben Gott gab, und kehrten ebenso beim Sonnen-aufgang mit den Neuanschaffungen für alle – auch für den Kleinen – zurück. Dies war ein Fest für ihn. Wenn der Kleine zum Beispiel ein neues, nach fri-schem Maschinenöl riechendes Hemd bekam und es anprobierte, konnte ihn keiner mehr aus diesem herausholen. Er schlief auch so in diesem neuen Hemd in dieser Nacht ein.

Von demselben Rand kam manchmal auch ein Trödler mit einem Pferdekas-tenwagen zum „Gut“. Im Tausch gegen Knochen, verrostete Eisenstücke, alte Lumpen und sonstiges Gerümpel gab er dann dem Kleinen so ein wunderba-res Spielzeug. In der Regel war dies ein Tontierchen, welches der Kleine vor-her noch nie gesehen hatte. Dann, nachdem er sein Tauschgeschäft mit dem Kleinen abgewickelt hatte, fuhr der Trödler weiter zu dem anderen Rand hinweg, wo ein Stück Landstrasse zu sehen war.

Der Kleine bereitete sich immer auf die Besuche des Trödlers vor. Um die Hüt-te herum, an den Stellen von anderen ehemaligen Hütten, gab es einige abge-rutschte und durch Gras bewachsene Gruben. Diese dienten dem Kleinen als die Lagerstellen, an denen er die Tauschwaren sammelte. So eine Grube, in welcher altes, gerostetes Eisen aufbewahrt wurde, nannte er auch so schlicht und einfach „die Schmiede“.

Aber am teuersten wurden Knochen geschätzt. Sie kamen zum Teil vom Ess-tisch her nach deren sorgfältigem „Polieren“. – Noch ein Wörtchen vom Va-ter, durch welches er die gierige Sorgfalt bezeichnete, mit welcher die Kinder manchmal in der Reihe nacheinander diese Knochen abnagten. Ein Teil da-von, die kürzeren abgerundeten Knöchenchen, ließ der Kleine allerdings für sich. Denn diese waren Spielknöchenchen, die er aufbewahrte und mit denen er eben gerne spielte.

Mehr als anderswo gab es Knochen gleich hinter dem Torfmoor, auf der ge-genüberliegenden Hügellehne, wo einst die Rinderfarm gestanden hatte. Dort, zwischen den alten Gruben im ausgetrockneten und durch Unkraut bewach-senen Humus, konnte man sogar einen ganzen Kuhschädel finden.

Manchmal fand der Kleine Knochen, während er auf dem Friedhof spielte. Der Friedhof war alt, und manchmal, bei Neubeerdigungen, waren entweder ein Schädel oder auch andere menschliche Gebeine ausgegraben worden, die da-nach einfach so im Gras, vom Regen gespült und vom Winde getrocknet, liegen blieben.

Der Kleine hatte nie Angst vor dem Friedhof. Dies war seinetwegen sogar der interessanteste Ort in seiner Welt. Hier, auf einem alten, kaum noch zu er-kennenden Grab, wuchs solch ein riesiger Johannisbeerstrauch, welchen es nirgendwo sonst mehr gab. Die Johannesbeeren auf diesem Strauch waren immer sehr groß und reif.

Auch hier, am Rande dieses Haines, auf einem anderen alten und eben-falls kaum noch erkennbaren Grab stand ein riesiges Kreuz aus zwei grob behauenen Balken. Dieses Kreuz hatten den umlaufenden Erzählungen nach die irgendeinmal daran vorbei wandernden Kalmücken über ihren entschla-fenen Mitmenschen errichtet. Warum Buddhisten-Kalmücken das christlche Kreuz aufgestellt hatten, wurde nicht überliefert. Wahrscheinlich war es ein Tribut für einen Unterschlupf für den Erblichenen überhaupt auf diesem Friedhof – irgendwohin mussten sie ja mit dem. Es gab auch keine Inschrif-ten auf diesem Kreuz. Dem auf seine Querbalken kletternden Kleinen war das alles ohne Belang und das Kreuz diente ihm mal einfach als Motorrad, mal auch als der wilde und kecke Hengst „Bukephalos“, je nach Laune des Kleinen eben.

Und im Frühling bauten Elstern ihre Nester in Birkenkronen auf dem Friedhof. Der Kleine wusste genau, wann die kleinen getüpfelten Eierchen in diesen Nestern erscheinen. Er kletterte dann auf einige Birken hinauf, holte behut-sam ein paar Eierchen aus verschiedenen Nestern – man durfte nie ein Nest leer plündern, sonst merkten es die im Übrigen dem Zählen nicht so mächti-gen Vögel und verließen das Nest! – und kochte diese Eierchen gleich hier auf dem Lagerfeuer in einer verrosteten Konservenblechdose aus seiner Schmiede, diese mit dem noch herumliegenden Schnee vollgestopft.

Aber die Sachen, die am leckersten waren, fand der Kleine auf einem gepflegten Grab hinter dem blaugestrichenen Lattenzaun. Auf diesem Grab stand ein kleines Kreuz mit einem daran befestigten und verglasten Schachtelrah-men, in dem ein ausgebleichtes Foto eines Jungen zu sehen war, welches auch mit Wachsblumen eingefasst wurde.

Zu diesem Grab kamen an bestimmten Tagen, die der Kleine natürlich auch gut kannte, zwei hagere Schwester-Greisinnen. Nach ihrem Weggehen fand der Kleine Bonbons oder Plätzchen auf dem Schachtelrahmen, auf dem Kreuz oder auf den Querlatten des Zauns. Der Kleine verstand es auch so, dass diese eben für ihn hier hingelegt worden waren, denn nur er alleine lebte auf diesem Friedhof. Zu diesem Grab hatte der Kleine ein besonders behutsames Verhältnis und bemühte sich dieses zu pflegen, wenn die Greisinnen lange nicht kamen.

Abseits vom Friedhof, hinter dem Ackerfeld, war noch ein Birkenwäldchen zu sehen, zu welchem der Pfad führte. Dort befand sich der andere Rand der Welt, wohin der Vater immer frühmorgens wegging. Der Kleine hatte es ir-gendwie nie hingekriegt, den Moment zu erwischen, als der Vater fortging, nur es vielleicht ab und zu im morgigen Schlaf gehört. Dafür holte er ihn abends immer am Friedhof ab, wenn der Vater heimkehrte, sei es im Winter oder im Sommer.

Im Winter wurde alles drum herum durch riesige Schneeverwehungen bedeckt und der Vater musste den Pfad im Schnee durch Birkenäste abstecken. In seinem Beutel, in dem er sein Mittagessen von zu Hause mitnahm, blieb im-mer etwas Leckeres für den Kleinen. „Eetwas Kleinerlei vom Häselein“, wie der Vater ihm lächelnd sagte.

Am liebsten mochte der Kleine gelbliche, durch Brotkrümelchen und Vaters Machorka bedeckte Schwarte vom alten Salzspeck. Nichts, was besser als der Geruch und Geschmack dieser Schwarte gewesen wäre, kannte der Klei-ne. Der müde Vater nahm die Hand des diese Schwarte heftig kauenden Kleinen oder setzte ihn auf seine breiten Schultern und sie gingen zusammen nach Hause.

Den dritten Rand der Welt mochte der Kleine gar nicht. Er zeigte sogar kein großes Interesse daran. Dahin fuhr der Trödler mit seinem „Reichtum“ und mit den umgetauschten Vorräten des Kleinen weg. Von dort, von der Seite der Landstraße, wurden immer wieder Särge mit Verstorbenen auf einer Pferdefuhre oder auf einem Pferdeschlitten herangefahren.

Der Friedhof füllte sich dann mit weinenden Menschen, welche zuerst den her-beigefahrenen Sarg vergruben und sich dann paarweise oder einzeln durch den Friedhof verstreuten. Sie knieten auf alten Erdhügelchen oder ließen sich auf die Bänke nieder, dort wo es welche gab. Der Friedhof wurde dann still und doch lebendig, mit schweigenden, dunklen und gebückten Silhouetten gefüllt.

In solchen Momenten litt der Kleine, dies alles vom Rande des Friedhofs aus beobachtend und von keinem bemerkt. Nachdem der Friedhof wieder leer wurde, betrat der Kleine diesen etwas ängstlich und befremdet. Denn wie ei-ne widersinnige Wunde ragte aus dem grünen Gras oder aus dem weißen Schnee hervor ein braunes Lehmhügelchen mit einem blendend weißen Holz-kreuz darauf. Und noch lange danach hatte sich der Kleine an den Fremden auf dem Friedhof gewöhnen müssen, bis Schnee oder Gras das braune Hü-gelchen bedeckten und das Kreuz grau vom Regen und Winde wurde. Alles vergeht... das Leid des Kleinen ging auch vorüber.

Nichts wusste der Kleine über den vierten Rand der Welt, wohin auch kein Weg führte und sich nur der Pfad von der Hütte bis zum Ziehbrunnen und weiter schon kaum merklich bis zum Torfmoor hinunter schlängelte. Hinter dem Torfmoor, wo sich einst die Rinderfarm mit den Knochen befand, weiter links von dieser, stiegen bis zum Horizont breite mit etwas Grünem besäte Ackerfelder auf. Der Kleine wusste aber, dass der echteste Rand der Welt nicht dort, sondern etwas seitlich zwischen diesen Feldern mit der Ex-Farm und dem Torfmoor lag.

Dort, hinter einer kleinen Schlucht, stieg bis zum Himmel empor eine im Ge-gensatz zu der heimischen Hügellehne mit grünem und saftigem Gras be-wachsene Weide. Und ganz an ihrem höchsten Rande wuchsen drei Birken mit den Wurzeln in den Horizont, mit den Wipfeln gen die hellgrauen Feder-wolken, mit den weißen Stämmen auf dem blauen Himmelhintergrund – zwei eng beisammen und eine etwas weiter beiseite.

Hinter diesen Birken endete alles, einschließlich der Vorstellungskraft des Kleinen! Hinter den Birken rollte bis zu der Hütte – entweder vom Himmel herunter oder von unten wie aus der Hölle herauf! – das entfernte und dump-fe Dröhnen der Stille hervor. Es dröhnte tags und nachts die ein paar Kilo-meter entfernt verlaufende Transsibirische Eisenbahnmagistrale , welche der Kleine noch nie gesehen hatte und von der er in seiner Welt nichts wissen konnte.

Alles, was der Kleine nicht kannte, aber etwas Unbegreifliches darüber vom Vater gehört hatte: über Vaters anderes Leben in der Ukraine, über den Krieg und Deutschland und über vieles mehr – alles war für ihn hinter die-sem Rand. Und es schien dem Kleinen auszureichen, nur ein einziges Mal hinter diesen Rand zu schauen, damit dies alles gleich sichtbar und begreif-lich würde, als ob sich dies alles wie ein umfangreiches, von einem hohen Steilhang hinab beobachtetes Panorama darstellen würde.

Dieser Rand machte dem Kleinen zwar tiefe Angst, zog ihn aber auch an. Es überlief ihn kalt und regte seine Seele auf – irgendwo in der Magengrube und weiter oben in der Brust, allein wenn er an diesen Rand dachte. Der Kleine wollte schon lange seinen Mut zusammenkratzen, um den Weg bis zu diesen drei Birken – zwei eng beisammen und eine etwas weiter beiseite – zu bewäl-tigen und über diesen Rand hinaus zu schauen.

Heute wachte er mit dem Gefühl auf, dass der Tag gekommen sei. Für alle Fäl-le entschied er, den treuen Arap natürlich mitzunehmen.


Der treue Freund und beste Partner – der Hund Arap

Arap, ein schöner und kluger Hofhund, gelbrothaarig wie das Birkenlaub im Herbst, war nicht zum ersten Mal dem Kleinen in seinen allerlei riskanten Unternehmungen behilflich gewesen. Arap hatte es in der Familie schon im-mer gegeben, solange sich der Kleine zurückerinnern konnte. Arap genoss in der Familie uneingeschränkte Rechte und Freiheiten. Über seine Heldentaten und Verdienste wurden in der Familie Geschichten hochachtungsvoll erzählt.

Die Wichtigste war natürlich die über ihn und Dora, eine alte dickwanstige und tollpatschige, aber für die Familie überlebenswichtige Melkkuh. Diese Kuh wurde einst durch einen glücklichen Zufall angeschafft. Als der Vater nach dem Krieg und dem darauffolgenden Zwangsarbeitslager zu seiner hungernden Familie zurückgekehrt hatte, indem er in diesen Schweinebetrieb unter die Kommandanturaufsicht verbannt worden war, erwachte in der Familie die Hoffnung auf ein etwas besseres Leben.

Der Vater musste als Maurer im Betrieb arbeiten und bekam sogar einen klei-nen Lohn dafür. Von diesem knappen Geld legte er jeden Monat ein paar Rubel auf die höchste Kante: Die Kinder brauchten dringend Milch, um beim ohnehin knappen Essen und dazu noch sibirischüblichen Vitaminmangel ge-sund zu wachsen.

Der Vater nahm sich vor, wenigstens eine Ziege zu kaufen. An eine Kuh war es wegen der Preise auf dem Markt gar nicht zu denken. Als es soweit war, und der Vater mit der Mutter auf den Markt ging, erwischten sie die alte Dora zu einem Preis nur etwas höher als der für eine Ziege. So erschien Dora in der Familie und so fing die Familie an einigermaßen zu leben, wie es die Mutter danach immer erzählte.

Die Kuh übernachtete nach ihrem Weiden am Tage jedes Jahr bis zum Winter hinein in einer Umzäunung aus Langnutzholz hinter der Hütte. Für den Win-ter musste sie dann aber in den Kuhstall, welcher direkt an der Hüttenwand angebaut worden war, so dass man bei dem eisigen Winterfrost direkt aus der Hütte in den Kuhstall gelangen konnte. Auf das flache Dach des Kuh-stalls wurde im Herbst das duftende Heu für den Winter aufgehäuft. Ein Gang führte aus dem Kuhstall hinunter in eine für die Schweine in der Erde ausgebudelte, mit Holzstangen überdachte und darüber mit Erde zugeschüt-tete Baracke. Direkt neben diesem mit Erde zugeschütteten und mit Unkraut bewachsenen schiefen Barackendach befand sich unglücklicherweise die Um-zäunung fressgieriger Dora.

In einer Nacht im Spätherbst, als das Heu bereits oben auf dem Dach gelagert wurde, jedoch Dora noch in der Umzäunung ausharren musste, brach sie, durch den Duft des frischen Heues verführt, die oberen Umzäunungsstangen durch und kletterte auf das vereiste und schiefe Dach der Erdbaracke, in ih-rem verzweifelten Versuch, das erische Heu zu erreichen und zu kosten. Dora rutschte aber leider Gottes aus und kippte in den schiefen sowie engen Spalt zwischen der Schweinebaracke und der Umzäunung hinein, all ihre vier Paar Hufe zum hellen und frostigen Mond ausgestreckt.

Sie hätte bestimmt bis zum Morgen unter diesen äußerst eingeschränkten Le-bensbedingungen nicht überlebt, aber der wachsame Arap schlief nicht. Er sprang im nächsten Moment aufs Dach der Baracke, betrachtete kurz Doras missliche Lage, während Dora in ihrer Schwermut nicht einmal zu muhen versuchte, sondern Arap still und flehend mit dem glitzernden Weiß ihrer ausgedrungenen und traurigen Augen anschaute. Arap bellte sie einmal an – nicht böse, nur so etwas verachtend – und schoss um die Hütte herum zu der Eingangstür.

Er bellte und warf sich an die Tür, bis der Vater aufwachte. Als der verschla-fene Vater, schimpfend und nichts verstehend, aus der Tür kam, stürzte sich Arap, furchtbar bellend, auf ihn, er griff den Vater an seiner weißen Schlaf-hose, zog ihn hinter sich her, lief einladend um die Ecke herum und wieder zurück zum Vater, erreichte doch Vaters Verständnis und führte ihn schließ-lich zu Dora.

Ein anderer Fall war nicht so bedeutend fürs Leben der Familie, charakterisier-te aber Araps Ehrlichkeit und Selbstlosigkeit ausdrücklich. Arap und Mieze, die schwarzweiße Familienkatze, blieben einmal tagsüber unter sich alleine in der Hütte. Auf dem Esstisch blieb immer etwas Essbares liegen und stehen: Milch, Brot, ein Stück Speck, ein Knochen auf dem Teller, welcher noch sei-nem „Polieren“ unterlag, so dass jeder für sich etwas zum Naschen finden konnte, wenn er sich im Tagesverlauf entkräftet fühlte. Erst abends, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam und sich zum Abendessen hinsetz-te, kam die ganze Familie am Tisch zusammen.

Arap schlief, durch die sommerliche Hitze ermüdet, auf einer Fußmatte an der Eingangsschwelle. Die Mieze saß oben auf dem Ofen, ihre grünen und schlauen Katzenaugen zusammenkneifend, immer wieder nach den schmack-haften und sie seit langem verführenden Esstisch schielend. Dabei vergaß sie nicht auch dem unruhigen Schlaf des ab und zu zusammenzuckenden und sich an seinen Flanken mit Zähnen klatschenden Hundes zu lauschen. Schließlich überwältigten Versuchung und Gier all ihre anderen Überlegun-gen: Mieze stieg weich vom Ofen auf den Fußboden herab und sprang auf den Tisch hinauf.

Arap nahm sie ins Visier gleich, als sie auf dem Fußboden landete, kam aber erst dann an den Tisch heran, als sie sich in ihrem hinterhältigen Vorhaben vollkommen und endgültig entlarvte, und bellte ihr im Bass seine ehrliche und unbestechliche Meinung über ihre Tat.

MMieze begriff sofort, dass sie von Arap erwischt wurde, vergaß das Essen und wollte nun nur noch das Eine, sich irgendwie aus dem Staub machen. Vergeblich! Arap vermied mit seinem strengen Bellen all ihre Versuche vom Tisch abzuhauen und der gerechten Strafe zu entkommen. Als die Mutter nach Hause kam, saß die arme Mieze immer noch auf dem Tisch, ohne etwas vom Essen zu berühren, während Arap unter dem Tisch lag, darauf wartend, die am Tatort erwischte Mieze den Herren und ihrem Willen zu übergeben.

Arap selbst erlaubte sich nie in der Hütte das zu berühren, was nicht ausdrücklich für ihn bestimmt war. Er hielt es allerdings nicht für nötig, sich mit Mieze ebenso ehrlich und anständig zu verhalten. Mieze, wenn sie ihre Kätzchen hatte, schaffte normalerweise Futter für sie durch die Jagd in umliegenden Feldern und Wäldern heran und kehrte nie ohne Beute zurück. Sie brachte immer Feldmäuse, aber manchmal gerieten auch Vögel und sogar kleine Häschen oder Murmeltiere ihr in die Krallen.

Arap selbst erlaubte sich nie in der Hütte etwas Essbares zu berühren, was nicht ausdrücklich für ihn bestimmt wurde. Er hielt es allerdings nicht für nötig, sich mit Mieze ebenso ehrlich und anständig zu verhalten. Mieze, wenn sie ihre Kätzchen hatte, schaffte normalerweise Futter für diese heran durch die Jagd in umliegenden Feldern und Wäldern und kehrte nie ohne Beute zu-rück. Sie brachte immer Feldmäuse, aber manchmal gerieten ihr in die Kral-len auch Vögel und sogar kleine Häschen oder Murmeltiere.

Arap erlegte ihr aus ungewissen Gründen einen unerträglichen Tribut auf, wel-chen sie ihm abzureichen hatte. Falls er zu Hause war, kam er ihr bei ihrer Rückkehr von der Jagd immer entgegen. Er versperrte ihr mit seinem Körper den Weg nach Hause, indem er sich herausfordernd quer über ihren Weg stellte. Mieze, gemerkt, dass es ihr diesmal nicht gelingt an Arap vorbeizu-schleichen, legte ihre Beute vor seine Pfoten hin und entfernte sich unweiger-lich, aber würdevoll. Diese Szene war in ihrer komischen Dramaturgie nicht zu überbieten!

Nur das Eine rettete Mieze und ihre Kätzchen vorm Verhungern: Arap war selbst tagsüber selten zu Hause und keiner wusste, wo er sich herumtrieb. Manchmal humpelte er danach auf drei Pfoten zurück, manchmal kroch er, überhaupt kaum noch lebend, nach Hause und leckte noch lange danach sei-ne Schusswunden zu, winselnd und sich über die Menschen beklagend.

Einen üblen Dienst erwies ihm sein schönes Fell von Birkenlaubfarbe im Herbst: Alle, einschließlich der in der Gegend passierenden Jäger, hielten ihn im Freien für einen Fuchs. Aber nichts konnte diesen klugen Hund zur Ver-nunft bringen und die unstillbare Sehnsucht nach Freiheit und nach freier Weite verfolgte ihn bis zu seinem Ende.

Alle Versuche, ihn durchs Anketten zu retten, scheiterten und waren zwecklos. Er schaffte es immer wieder das Halsband mit Pfoten runterzukratzen und lief weg. Wenn er es mit dem Halsband nicht schaffen konnte, schlug er sich so lange, bis er die Kette durchriss, und lief sowieso weg.

So lief er einst weg und kehrte nie wieder zurück. Er kam am nächsten Tag nicht und am übernächsten auch nicht. So etwas war auch mal früher schon vorgekommen, aber danach war er schon in ganz schlechtem Befinden heim-gekrochen. Als er auch am dritten Tag nicht heimkehrte, wusste die Familie bereits, dass er nie zurück sein wird.

Das war der erste schwere Verlust in der Familie und das war der erste schwere Verlust im Leben des Kleinen. Noch lange danach forschte der Kleine sein Landreich durch, aber er fand nirgendwo irgendwelche Spuren von Arap. Und dann begriff der Kleine die Kühle und die Bosheit der weiten und fremden Außenwelt und er fühlte sich seitdem oft einsam auf dieser Welt.


Die dröhnende Stille der Ferne

Jetzt rief der Kleine auch vergeblich nach Arap, aber als er bis zum Torfmoor kam, holte ihn der aus seinem ungewissen Irgendwo außer Atem herbei an-gestürmte Arap ein, genauso frei wie der Kleine auch. Arap leckte in seiner freudigen Begeisterung mit seiner heißen und rauen Zunge alle Sprossenfel-der im Gesicht des Kleinen ab.

Er lief dem Kleinen voraus, kam wieder zurück und schaute ihm in die Augen, bemüht das Vorhaben des Kleinen zu erraten. Als sie hinter dem Torfmoor waren und Arap zu verstehen schien, was sich der Kleine vorgenommen hat-te, trabte er gleich ohne Hektik wenige Schritte vor dem Kleinen. Die Schlucht überwand er in einem Schwung, der Kleine blieb aber auf dem Bo-den der Schlucht mit steilen Wänden von seiner eigenen Höhe stecken.

Der Kleine wusste nicht, dass die Schlucht so tief und steil ist, denn er hatte es noch nie alleine bis hierhin geschafft. Die ganze Familie kam nur manchmal im Frühling zur Schlucht, wenn die Gegend von so einem Tosen gefüllt wurde, dass man es schwer hatte, in der Nacht zu schlafen: Es lärmte und schäumte die Schlucht, wenn die Tauwässer von der ganzen Hügellehne, die Schlucht überflutend, ins Torfmoor sausten.

Zu Hilfe kam der treue Arap. Den Kleinen entweder am Kragen oder an einem Hosenträger mit Zähnen gepackt, zog er ihn, jaulend und an den Hinterpfo-ten kauernd, herauf, bis der Kleine oben ankam. Der Zwischenfall erschütter-te das Selbstvertrauen des Kleinen und er ginge wahrscheinlich nicht mehr weiter, sondern kehrte lieber zurück, wäre der zuverlässige Arap nicht hier bei ihm. Arap schaute dem Kleinen in die Augen und stellte sich neben ihn unter seine linke Hand.

Je näher die drei Birken heranrückten, desto klarer spürte der Kleine reine Leere des Himmels hinter ihnen, und umso größere Aufregung packte ihn. Und als bis zum Horizont, aus dem die Birken wuchsen, schon ganz wenig blieb, riss sich hinter diesem Rand los, aus der dort dronenden Stille her, dem Kleinen und dem stillgewordenen Arap entgegen ein heißer Windstoß, der heftiger war als der Knall einer geschüttelten Decke.

Der durch die Erwartung hinter den Rand zu schauen äußerst angespannte Kleine hielt es nicht mehr aus. Er rannte panisch Hals über Kopf hinunter, den Kopf eingezogen und nur die Blitze seiner während des Sommers bis zum Blut geplatzten Haut an den Füßen sehend.

Um ihn herum kreiste Arap, in einen wilden Freudentaumel und ins laute Ge-bell verfallend und im vom Kleinen ausgedachten lustigen Spiel gerne teil-nehmend. Er versuchte dabei spielend auch noch den Kleinen immer wieder mit Zähnen an den Fersen zu erwischen, wodurch der Kleine in seinem Lauf noch mehr drauflegte. Der Kleine kam erst dann zu sich, als er auf den Bo-den der Schlucht hinunterrollte und mit seinem Rücken deren steilen und si-cheren Hang spürte...

So gelang es dem Kleinen damals nicht, hinter den ihn so faszinierenden Rand seiner Welt zu schauen und so blieb seit damals in ihm eine leidenschaftliche und über alles gehende Sehnucht nach der dröhnenden, tosenden und anzie-henden Stille der unbekannten und unerforschten Ferne.

* * *


Die Engeljagd des Kleinen

Als der Kleine 5 Jahre alt war, zog seine Familie aus der Hütte am Friedhof in dieses namenlöse Dorf, zwei Kilometer von seinem Landgut entfernt.

So begann das neue Leben des Kleinen unter den vielen Menschen in diesem Dorfe, mit neuen Geschichten und Abenteuern. Einige von denen werden nun hier geschildert.

Der Kleine wuchs eher als Ungläubiger auf. Sein Vater, wie die meisten Deutschen aus Prischiber Kolonien, wurde in der evangelisch-lutherischen Kirche getauft. Im Laufe seines Lebens verblich aber sein Glaube, nachdem er seit seinem elften Lebensjahr immer nur auf sich selbst und seine eigene Überlebenskunst angewiesen war. Er verlor jedes Vertrauen und somit den Glauben an Gott und lachte nur gutmütig über jene widersprüchlichen Bibelgeschichten, wenn jemand ihm mit diesem Thema kam.

Die in der russisch-orthodoxen Kirche getaufte Mutter glaubte, wenn auch heimlich, an Gott, besonders nachdem ihre Gebete von Gott erhört worden waren und der Vater aus der Hölle des Krieges und der Gefangenschaft zur Familie zurückkehrte.

Sie brachte ihren Kindern sogar „Vaterunser“ vor dem Schlaf bei und erzählte ihnen immer, dass die Schutzengel während des Essens unter ihren Kinderar-men sitzen. Dies veranlasste den fest daran glaubten Kleinen, diese Engel zu jagen. Er warf plötzlich seinen Löffel auf den Tisch und griff unter seine Arme. Nur waren die Engel immer ein Stück schneller als er. Wahrscheinlich wussten sie einfach im voraus Bescheid über sein tückisches Vorhaben. Jedenfalls schaffte er es nie, sie zu schnappen, was seinem Glauben selbstverständlich wenig weiterhalf.

*


Die Besinnung auf die Wurzeln oder darüber, wodurch man kränken und womit man trösten kann

Den Kleinen verband dabei mit dem Vater so etwas wie richtige Männerfreundschaft. Als all seine Geschwister aus dem Elternhaus weg waren und der Vater wegen seiner hochgradigen Sehbehinderung in die Frührente ging, verbrachten sie viel Zeit miteinander und der Vater erzählte ihm vieles über seine Kindheit.

Daraufhin fragte der Kleine ihn mal:

"Sag mir Papa, waren wir damals so richtig reich?“

"Ne-e, wir waren nicht so richtig reich.“ – antwortete der Vater nachdenklich lächelnd – „Die Familien waren sehr kinderreich, und wenn die Kinder dann er-wachsen wurden, musste alles immer wieder zwischen ihnen geteilt werden.“

"Eine uns verwandte Familie namens ‚von Falz-Fein’ war es aber allemal.“ – setzte der Vater seine Antwort fort, um den Kleinen nicht zu enttäuschen, – „Sie besaß Hunderttausende Hektar Land und etwa eine halbe Million Schafe.

Einer von ihnen, Onkel Friedrich, gründete auf seinem Land im Süden vor der Krim den Tierpark ‚Askania-Nowa’. Dafür waren er und seine Familienangehörigen im Jahre 1914 vom Zaren geadelt worden und alle deutschen Kolonisten von dort waren sehr stolz darauf.“

"Wow! Derselbe Tierpark, über den ich in der Schule gelernt habe?“ – machte der begeisterte Kleine große Augen, der plötzlich einen haardünnen, silbern flatternden, schimmernden Faden zwischen dem schwarzen Loch der Vergangenheit und seiner bedeutungslosen Gegenwart erblickte.

"Ja, derselbe.“ – bestätigte der Vater – „Der Tierpark besteht bis heute noch und ist, denke ich, weltweit bekannt. Ich kann mich noch an den Onkel Fritz erinnern, als er manchmal mit seiner Kutsche zu uns zu Besuch kam und eine ganze hinten an der Kutsche dran gefestigte Kiste mit Geschenken mitbrachte. Die Mutter und er waren Cousins zweiten Grades oder so.“

Es klang hier in der im sibirischen Winter bis zum Dach zugeschneiten Hütte alles wie ein Märchen in den Ohren des Kleinen und weckte seine Phantasien noch besser als alle Piratengeschichten, die er am besten mochte und zu dieser Zeit massenhaft verschluckte.

Einst, nachdem er dem Vater über einen von ihm gesehenen Kinofilm über den Bürgerkrieg mit ebenfalls heldenhaften Roten und ihren gegnerischen und ihnen weit unterlegenen Banditen aller Art, einschließlich ihrer Alliierten Batjko Machno und Ljowa Zadow erzählte, brachte der Vater den Kleinen zu einer ähnlichen Begeisterung, indem er routiniert bemerkte:

"An Ljowa Zadow kann ich mich noch erinnern. Ich sah ihn oft, als er meinem Vater seine Raubbesuche abstattete. So dumm, wie es im Kino gezeigt wird, waren aber weder er noch Batjko Machno selbst.“

Nicht selten konnte allerdings der Kleine auch so etwas vom Vater hören:

"Ne-e, hier riechen Blumen nicht. In der Ukraine war der Duft von Blumen – besonders von Veilchen in der Nacht – so stark, dass es einem dadurch schwindlig werden konnte.“

Oder:

"Das sind doch keine Frösche – sie können ja kaum noch quaken. Dort hörte man ihre „Quakkonzerte“ meilenweit, wenn sie sich in den Frühlingsnächten zu ihren „Hochzeiten“ in den umliegenden Teichen versammelten.“

Solche Sprüche fand der Kleine mit der Zeit irgendwie fast taktlos:

"Na du bist aber gut. Du hast mich hier in Sibirien geboren und erzählst mir jetzt noch, wie beschissen es hier im Vergleich zu deiner Heimat ist.“

"Ich hab ja nicht gesagt, dass es hier beschissen ist. Ich meinte nur wie anders alles hier ist.“ – erwiderte der Vater etwas irritiert und verunsichert:

In vielen gemeinsamen Erinnerungsabenden zu dritt erzählte auch die Mutter gerne über ihre in der Ukraine verbrachten Jugendjahre, als sie den Vater kennenlernte, und wie schön es dort war.

Zum Schluss verdammte sie weinend Hitler und Stalin wie immer, denn wegen dieser beiden verlor sie das alles und wurde hierein gesteckt. Der Vater tröstete sie ganz schlicht und ergreifend:

"Ach Mutti, hör damit auf. Du weißt ja genau, dass wir dort schon längst verhungert hätten. Hier haben wir wenigstens immer genug Kartoffel und waren trotz aller Not, nie so richtig in Gefahr eines Hungertodes.“

Dieser einfachsten Überlegung musste die Mutter zustimmen und beruhigte sich wieder. Sie weinte auch immer, wenn sie über ihre Flucht und über all das erzählte, was sie alle in Polen, nach der Einberufung des Vaters und aller anderen Männer zum Militärdienst und während der Deportation nach Sibirien erleben mussten.

Dem hörte auch der Vater traurig und genau zu. Aber auch hier fand er einen schlichten Trost für sie:

"Mutti,“ – sagte er sie umarmend – „sei doch umso mehr froh, dass wir alle nach alldem noch leben, uns wieder zusammengefunden haben und es uns noch einigermaßen gut geht. Du weißt doch, wie viele anderen lange nicht so viel Glück hatten wie wir und das nicht geschafft haben.“

Und wieder hatte die Mutti nichts dagegen einzuwenden und stimmte dem, sich allmählich beruhigend, zu.

Es war schon bewundernswert, wie der Vater nach so einem Leben seine Nerven beherrschen konnte und immer ausgeglichen und gelassen wirkte. Ihm halfen dabei sehr sein Humor, seine Lebenserfahrung und gute Menschenkenntnisse.

Er stritt sich mit den Menschen um ihn herum nicht und ärgerte sich nicht über den Blödsinn, den sie ihm manchmal erzählten und weiszumachen versuchten. Er wusste, dass es sich nicht lohnt, sich mit Ihnen anzulegen, dass viele ihn sowieso kaum verstehen würden – zu unterschiedlich wären seine und ihre Leben, Erfahrungen und Weltanschauung.

Er machte am liebsten schnell alles zum Witz und lachte gutmütig über die Naivität mancher Menschen, die ihr langes Leben gelebt und nichts daraus gelernt hatten.

Einer seiner Baukollegen, Halbukrainer-Halbrusse – der im Krieg war, bis nach Polen kam, wo er verletzt wurde und danach, für irgendetwas verurteilt, doch in dieser Siedlung in Sibirien landete – fragte mal den Vater auf seinem durch das Ukrainisch verdorbenen Russisch:

"A sach’ ma’ Christjanytsch,“ – wie er immer den Vater nach Vornamen seines Vaters ehrenwürdig ansprach – „ob es hinter Polen noch irgend’ne Stadt gibt?“

Seitdem kam dieses Zitat in der Familie immer wieder dann, wenn es um die Primitivität und Unwissenheit von irgendjemandem ging, der es eigentlich wissen sollte.

*


Über die großen Sünden des kleinen Meisters

Nachdem der Vater in die Invalidenrente ging, konnte er im Sommer noch etwas arbeiten und durfte noch etwas dazuverdienen.

Der Kleine arbeitete während der Schulsommerferien mit ihm zusammen. Sie setzten neue und reparierten alte Öfen in den Haushalten der Dorfeinwohner und behoben Putzschäden an den Fassaden ihrer diesem Schweinebetrieb gehörenden Mietshäuser.

Jeden Tag, frühmorgens, ging der Kleine zum Pferdestall am anderen Rande des Dorfes. Er spannte das ihm zugeschriebene Pferd in die Karre ein. Dann lud seine einspännige Lastkarre voll mit Sand, mit Lehm und mit Ziegelsteinen. Mit allem, was sie für ihre Arbeit brauchten. Dies war schwere, seine noch die eines Kindes Kräfte überfordernde und ihn dadurch zur Verzweiflung bringende Arbeit! So fuhr der Kleine zu ihrer Baustelle. Dort lud er alles ab, band das Pferd am Zaun fest und ging dem Vater zur Hilfe.

Der Vater war Vorarbeiter und Meister, der Kleine – Hilfsarbeiter und Lehrling. Seine Aufgabe war es, Mörtel vorzubereiten und Ziegelsteine um den zu setzenden oder zu reparierenden Ofen für den Meister zu stapeln. Er musste dabei auch alten Mörtel von gebrauchten und noch brauchbaren Ziegelsteinen abschlagen, bevor die neuen zum Einsatz kamen. Das war eine Arbeit, die er von ganzem Herzen hasste.

Die Arbeit, die ihm auch zustand und die er besonders mochte, war es, die alten Schornsteine oben auf den Dächern und in den unbewohnten, verstaubten Dachräumen abzureißen und neu zu setzen. Hier musste er den Vater, dem diese Arbeit wegen seiner Sehbehin-derung zu gefährlich war, ersetzen und es selbständig und professionell meistern.

In diesen dunklen und vom alten Kram gefüllten Dachräumen konnte er eine Menge Sachen für sich finden und sie mitnehmen, denn sie galten sowieso als weggeschmissen und von allen vergessen. Am meisten interessierten ihn alte Bücher, die er gleich hier in kurzen Pausen las, aber auch alte, kaputte Spielsachen.

Es machte dem Kleinen viel Spaß, allein in diesem verstaubten Kram „zu recherchieren“, und weckte seine Phantasie wie bei einer Schatzsuche. Oben, auf dem Dach, machte es ihm sogar noch mehr Spaß, denn von dort – von ganz oben – konnte er die kleinen Menschen auf den Straßen oder in ihren Höfen und ihren Gemüsegärten, also das ganze kleine Dorf und vieles weit da-rüber hinaus sehen. Es vermittelte ihm ein Gefühl der Befreiung durch die Höhe, Größe und Ferne.

Da diese Reparaturarbeiten in privaten Haushalten durchgeführt wurden, passierten manchmal kuriose oder auch brisante Zwischenfälle. Von seinem Oben konnte der Kleine wie ein Adler von seinem Felsen sehen, wie die zu diesem Haushalt gehörenden Kinder unten im Hof mit ihren manchmal solch wunderbaren Spielautos, die er selbst nie hatte, im von ihm gelieferten Sand spielten.

Die Verführung war für ihn zu groß und es passierte schon mal, dass er eine Arbeitspause eigenständig einlegte, hinunter kletterte, dem spielenden Hausherrenkind sein Spielzeug enteignete und selber damit in „seinem“ Sand spielte.

Das Kind, das vielleicht nur zwei oder drei Jahre jünger war als der Kleine, fing – naturgemäß – sofort an, laut zu schreien und zu weinen. Aus dem Hause sprangen seine Eltern heraus, mit wilder Entschlossenheit, ihr Kind zu schützen und zu retten, und... blieben überrascht stehen, als sie den Kleinen sahen – den Meister, der ihren Ofen in Ordnung zu bringen und sie damit vor dem Erfrieren im kommenden sibirischen Winter zu retten hatte.

Daraufhin trösteten sie leise ihr schreiendes Kind und versuchten ihm die Nächstenliebe und die Liebe zum Teilen mit dem Mitmenschen einzuflüstern. Auf der Bühne erschien der Vater aus der Küche, wo er an der Feuerung des Ofens arbeitete, um zu gucken, was hier draußen so einen Krach verursacht haben könnte.

Er sah seinen Kleinen und „empfahl“ ihm kurz und schlüssig, lieber wieder nach oben zu klettern und seiner Pflicht nachzugehen, statt sich hier mit kleinen Kindern anzulegen und so einen Blödsinn zu veranstalten.

Für den Kleinen kam diese Erlösung auch schon sehr gelegen – so viel Stress wollte er doch gar nicht, er wollte nur ein bisschen mitspielen.

Der Vater und der Kleine wurden auch immer von ihren Kunden zum Mittagessen eingeladen – aus Dankbarkeit für ihre humanen, lebensrettenden Dienste: Die Bedeutung eines gut funktionierenden Ofens, wie des Feuers selbst, wurde nie von der Menschheit unterschätzt und ein gut funktionierender Ofen war keine Selbstverständlichkeit in diesem Dorf, denn kein anderer konnte es so gut wie der Vater hinkriegen.

Bei diesen Mittagsessen gab es selbstverständlich ein Gläschen Wodka als Aperitif. Dabei entstanden auch kuriose Situationen. Nachdem der Gastgeber Wodka in Vaters Glas einschenkte, kam das Glas des Kleinen an die Reihe und plötzlich sah „der Schenkwirt“ ein kleines Kind vor sich anstelle des zweiten Meisters. Er guckte bestürzt und fragend den Vater an, und der Vater klärte ihn lächelnd auf:

"Ne-e, der Kleine trinkt nicht.“

Am Monatsende listete der Vater alle von ihnen ausgeführten Arbeiten nach ihrer Art und Menge auf und gab die Liste ihrem Chef, dem Hausmeister des Schweinebetriebs, der es dann ins Geld umrechnete.

Der Vater sorgte mit Auffassung dieser Liste immer dafür, dass sie nicht auffallend viel Geld kriegten, aber genug, um Schuluniform, Lehrbücher und sonstige Sachen für den Kleinen zum Schulbeginn anzuschaffen und etwas Geld für den Winter beiseite zu legen.

*


Die Genügsamkeit oder darüber, was und wie viel einem Menschen reicht, um reich zu sein

Vaters Monatsrente betrug etwa vierzig Rubel. Umgerechnet wären es zirka fünfzehn Flaschen Wodka oder – der Vater kaufte ja keinen Wodka – zwölf Kilo Butter, obwohl die Familie Butter auch nicht kaufte – dies waren nur immer die abstrakten Einheiten, in denen der Vater die Höhe seines Einkommens berechnete, um die Lebensqualität in verschiedenen Jahren und Ländern – sei es die Ukraine oder Drittes Deutsches Reich oder die Sowjetunion – vergleichbar zu machen.

Sie kauften auch kaum Spielzeuge oder Bonbons für die Kinder. Was auf der Kaufliste stand, war nur das Notwendigste von Lebensmittel: Brot, Mehl, Zucker, Salz, Sonnenblumenöl und das wäre dann auch alles.

Das andere kam zum Essen aus dem Gemüsegarten, vom Kartoffelfeld, vom Schwein, von der Kuh, von ein paar Hühnern und Enten.

Schuhe und Kleidung für die Kinder wurden nur einmal im Jahr vor dem Schulbeginn gekauft, aber auch nur dann, wenn die Schuhe oder die Hosen von Älteren den Jüngeren nicht mehr passten oder so abgetragen waren, dass sie nicht mehr geflickt, gestopft und gebraucht werden konnten. Dies war der Fall, wenn es keinen Platz für einen der nächsten Flicken auf den Schuhen oder auf den Hosen zu finden war.

Bis dahin mussten die Söhne, vom Vater angeführt, alle Schuhe – auch die von der Schwester und der Mutter – selbst reparieren und die sibirischen Filzstiefel neu besohlen – eine für den Kleinen noch ziemlich schwere Angelegenheit.

Die Mutter strikte zum Winter warme Wollsocken und Wollhandschuhe, nähte leichte Hosen und Hemden aus billigstem Stoff für den Sommer, prüfte, flickte und stopfte vor dem Herbstbeginn sorgfältig alle alten Hosen, Jacken, Hemden, Socken und Handschuhe – auch die vom Vater.

In der Schule wurden die Kinder wegen solcher Hosen mit manchmal zwei dicken Flicken am Hintern „Arschbrillenträger“ genannt. Es machte ihnen aber nichts aus, weil sie daran gewöhnt waren und nichts anderes kannten.

Dafür konnten sie aber eine ganze Menge und setzten dieses Können – darunter auch ihre besten Schulleistungen – solchen Bezeichnungen entgegen, so dass sie sowohl auf der Straße als auch in der Schule viel mehr geachtet als verachtet oder ausgelacht wurden.

Diese Art zu leben – nur das Notwendigste anspruchslos zu haben und nur das Höchste anspruchsvoll zu leisten – gab ihnen eine richtige Ansicht der Dinge, was die Armut und das Reichtum anbetrifft.

Sie fühlten sich nie arm, nicht einmal im Sinne von besitzlos oder mittellos, geschweige denn von unglücklich oder bedauernswert sein.

Sie besaßen eine Menge Fähigkeiten wahrscheinlich von Natur aus und eine Menge Mittel, diese Fähigkeiten zu entfalten, bestimmt von ihrem Vater, der ihnen diese Mittel beibrachte.

Sie hatten auch fühlende Seelen von der Mutter vererbt und anerzogen bekommen, was jedoch ihr Leben unter Umständen nicht unbedingt leichter machte. Aber glücklich waren sie in ihrer Familie allemal.

Sie spürten und wussten, dass eine Menge Menschen um sie herum bedauernswert war, wie der nette Kerl mit der Frage über eine Stadt hinter Polen. Sie waren stolz auf sich und bedauerten diese Menschen vom ganzen Herzen.

Sie fühlten sich reich und waren immer bereit, solchen Mitmenschen zu helfen und ihres mit ihnen zu teilen, wie es sich eben für den im traditionellen Sinne reichen Menschen gehören sollte, aber selten gehört.

Sie wären nie darauf gekommen, anderen Menschen etwas zu klauen oder – noch schlimmer – bei denen um etwas zu betteln, was sie nicht hatten. Wenn sie etwas nicht hatten, was sie machen konnten, wie zum Beispiel Spielzeuge von Spielwaffen aller Art bis Spielautos – fertigten sie es eben für sich selbst aus dem an, was sie zu Verfügung hatten. Meistens aus Holz, verrostetem Eisen oder alten Konservenblechdosen.

Was sie nicht hatten und nicht anfertigen konnten, existierte für sie einfach nicht. – Kein reicher Mensch schafft es ja auch, alles in der Welt zu besitzen.

Diese Einstellung und dieser Stolz waren nicht einmal Erziehungssache. Es wurde darüber nicht einmal geredet. Das war die erbliche Verhaltenweise in der Familie und stammte vielleicht vom Vater, der diesen Stolz noch von wohlhabenden und dafür niemandem etwas schuldigen Kolonisten mit der Muttermilch eingesogen hatte.

Oder auch von beiden Eltern, die es so brutal gelernt hatten, wie wertlos, vergänglich und sogar beschwerlich alles ist, was man um sich herum hat und auf den brennenden Geschichtebahnen mitzuschleppen und zu retten versucht.

Das Wertvollste und das Transportabelste, was nicht belastet, immer hilft, nie vergeht und sich sogar immer weiter vermehrt, ist nur das, was man in sich trägt – in seinem Kopf, in seinem Inneren, in seinen Händen und Füßen.

Deswegen wusste der Kleine auch gleich, nach diesem Theater mit dem Kind und seinem Spielauto, dass er sich dabei gar nicht ehrenhaft verhalten hatte, als ob ihm dieses Scheißauto oder sonst noch etwas fehlte.

Diesen, wenn auch nicht ausgesprochenen Vorwurf sah er auch in Vaters Augen, als er in den Hof herauskam. Auch deswegen war der Kleine froh, sich endlich aus dem durch nichts aufgewirbelten Staub zu machen und – sich vor dem Vater schämend – im staubigen Dachraum zu verschwinden.

*


Das Wirtschaftswunder oder darüber, was eine Hose und die Verbindung zu Deutschland kostet

Für Schwierigkeiten des sibirischen Lebens der Familie des Kleinen sorgte zusätzlich noch ein „Umstand“ – die Existenz einer Tante in der feindlich-kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland. Er hatte sie immer in verschiedenste Fragebogen bei der Frage „Verwandte im Ausland“ einzutragen.

Der russische Name „Anketten“ für diese Fragebögen macht ihre Zweckmäßigkeit ungewöhnlich deutlich, allerdings nur aus der Sicht der deutschen Sprache, der die in ihren Konzentrationslagern und in ihren sibirischen Zonen mächtig assimilierten Deutschen-Kolonisten immer weniger mächtig wurden.

Die unbekannte Tante war die älteste Schwester seines Vaters. Dieser fand sie durch Internationales Rotes Kreuz ungefähr im Jahre 1959 wieder.

Seitdem hatten der Vater und die Tante einen Briefwechsel – etwa einmal im Jahr. Seitdem trugen aber auch alle Söhne nach Ratschlag des Vaters diese Tante in ihre Anketten-Fragebögen ein, die sie hin und wieder hier und dort ausfüllen mussten.

Der Ratschlag bestand darin, dass es keinen Sinn machte, diesen Umstand zu verheimlichen. Der Vater meinte: „Der KGB weiß sowieso Bescheid, und so eine Verheimlichung macht einen bei dieser ernstzunehmenden Behörde nur verdächtig und die Sache somit noch schlimmer.“

Die durch die Existenz der Tante in Deutschland noch verschärften Unannehmlichkeiten wurden jedoch von derselben gelindert und entschädigt.

Sie schickte der Familie ab und zu – ungefähr ein Mal in ein paar Jahren – aus ihrem zu der Zeit bereits zustande gekommenen Wirtschaftswunderland seltene und für die sowjetisch-sibirischen Dorfverhältnisse nun wirklich exotische und „merkwürdige“ Pakete zu.

In diesen Paketen gab es einmal eine kleine, entzückende „Nescafe“-Dose, die dann mehrere Jahre, ungeöffnet, einen Glasschrank schmückte, weil sie so märchenhaft schön aussah, dass alles andere in der kleinen und bescheidenen Wohnung im Vergleich zu ihr einfach verblich.

Manche Schokoladentafeln, die nicht weniger schön aussahen, wurden doch – wenn auch nicht sofort auf der Stelle, sondern im Laufe der Zeit – von der siebenköpfigen Familie unaufhaltsam vernascht.

Der Rest von Paketen bestand aus einigen Kleidungsstücken, die auf eine unerklärliche Weise immer ein paar Nummern größer waren als die Größe des Größten in der Familie – des Vaters mit seiner immer noch bleibenden Waffen-SS-Soldaten-Gestalt.

Ihm half angesichts der Hosenbreite auch die Tatsache nichts, dass er mittlerweile ein Altersbäuchlein aufwies. So mussten die meisten dieser Sachen ebenfalls als entzückende Raritäten die Schränke der Familie schmücken.

Eine Hose von solcher Größe erwarb einst vom Vater der Kleine, als er noch Physik an der Uni studierte. Er sollte die Hose für sich umschneidern lassen.

Als der Auftrag, für den er ein Drittel seines Stipendiums opfern musste, erfüllt wurde – war die Hose nunmehr sogar für seine magere Figur mindestens zwei Nummern zu klein.

Vielleicht war der Stoff so verlockend schön und seine Menge ausreichend, um daraus zwei Hosen zu kreieren und damit ein gutes Geschäft zu machen – dies blieb bis heute unbewiesen, um es zu behaupten –, aber aus der Sache mit der Hose wurde doch nichts außer Verlusten.

Diese tragikomische Hosengeschichte unterstreicht nur, dass die Familie durch die Verbindung mit dem fremdkapitalistischen deutschen Mutterland doch mehr Leid als Freud erleben musste.

*


Wie man zu einem anständigen Menschen aufwächst

Der Kleine mochte in seinem tieferen Inneren große Gesellschaften und suchte danach.

Er wuchs in einer großen Familie unter vier älteren Geschwistern in einem immer eng gewesenen Raum. Es gefiel ihm – vielleicht dem einzigen in der Familie – sehr gut, denn er kannte keine Langeweile.

Der älteste Bruder war zehn Jahre älter als der Kleine; ging früh, mit fünfzehn, arbeiten und hatte mit dem Kleinen wenig zu tun. Die zwei anderen aber bildeten mit ihm zusammen ihre Brüderspielbande und waren seine dicken Freunde.

Der älteste unter ihnen, der im Krieg geborene, war ihr Anführer in allen Sachen und er war sehr einfallsreich. Er bastelte die besten Waffen aus Holz: Pistolen, Piratensäbel, Bögen, Schleuder und einiges mehr, was sogar richtig mit Zündholzkuppen und selbstgemachten Bleikugeln schießen konnte.

Sie bauten Laubhütten irgendwo im Walde und spielten Freischärler, die gegen alle möglichen Feinde zu kämpfen hatten.

Dieser Bruder war für den Kleinen noch lange ein Vorbild und Autorität. Er hatte ihn sehr lieb und wollte natürlich auch von ihm geliebt werden. Als „der Kleine“ genoss er sowieso allseitige Liebe in der Familie.

Aber in der Brüderbande war es nicht so einfach. Bei aller Liebe musste die Anerkennung noch verdient werden. Sogar andersrum – der Kleine wurde solange geduldet, bis er auf die eine oder andere Weise ausrutschte. Und dies war nicht leicht und es war hart.

Ein Menschenkind ist noch rein und lernt erst später, dass es manche Sachen gibt, die geheim gehalten werden müssen, weil sie regelwidrig sind – vor allem natürlich die Geheimnisse anderer, nach denen man aus diesen Gründen auch nicht unbedingt streben sollte.

So passierte es dem Kleinen während dieses Lernens hin und wieder, dass er gerne und offen den Eltern erzählte, was er gerade unter Brüdern mitgehört oder auch mitgemacht hatte – ohne jede Absicht, nur so, weil er es vielleicht lustig fand und seine Eltern auch mal damit belustigen wollte.

Stattdessen erlebte er eine nicht mehr lustige Katastrophe – er wurde auf der Stelle von Brüdern verachtet und zu einem Denunzianten abgestempelt, ohne genau zu wissen, was das bedeutet, aber so lernte er auch dadurch, dass es nichts Schlimmeres im Leben un-ter den Menschen gibt als zu denunzieren.

Nicht weniger lehrkräftig war auch sonstiges Zusammenleben. Die Familie aß meistens aus einem auf den Tisch gestellten Topf, einer Schüssel oder aus einer Pfanne. Da konnte dem Kleinen schon mal ein ebenfalls kindereigener Fehler unterlaufen und er fischte ungewollt das beste Stück für sich irgendwo am fremden Rand der Pfanne heraus.

Nichts war ungemerkt geblieben – er wurde von seinen Mitessern erwischt und ziemlich sarkastisch und brutal ausgelacht. So kommt man schnell dazu, am besten das schlechteste Stück für sich zu beanspruchen, damit bei den Mitmenschen überhaupt kein schlimmer Verdacht aufkommt.

All diese natürlichen Erziehungsmaßnahmen kriegten aber den Kleinen nicht unter, denn er verspürte gleichzeitig echte Liebe zu ihm von allen in der Familie. Das machte den Unterschied zu Knastbrüdern oder Militärkameraden, wo ähnliche Erziehungsverhältnisse eine Persönlichkeit brechen und vernichten können.

Der Kleine hatte immer eine Chance, alles wieder gutzumachen und die Liebe der anderen zurückzuverdienen. Anders war es draußen – in der bunten und sehr einfachen Gesellschaft, wo das, was man gerade sah, auch gleich zur Sprache gebracht wurde.

Als der Kleine sein Auge verloren hatte, bekam er diese Menscheneinfältigkeit schmerzhaft zu spüren. Er erhielt treffende Spitznamen, mit denen er dann sogar gutmütig, geschweige denn im Zorn, angebrüllt wurde.

Und nicht nur von Kindern – deren reine Unbedachtheit ihre bekannte Brutalität verursacht –, sondern auch von Erwachsenen, die nicht so kinderrein waren und selbst viele Schmerzen in ihrem Leben erlitten haben sollten.

Es schmerzte und kränkte die kleine Seele des Kleinen und überlastete seinen noch nicht abgehärteten Verstand. Aber auch das kam dem Kleinen zugute und er war sogar dann sehr einfühlsam, wenn er einem Baum einen Ast für seine Waffen abschneiden musste.

Die harte Lehre fruchtete schließlich und daraus erwuchs ein einfühlsamer, wenn auch sehr abgehärteter, zurückhaltender und anspruchsloser Mann, der großen Wert auf seine Aufrichtigkeit legte – was er später nicht gerade von seinen Brüdern behaupten konnte.

Aber auch dies gehört zu Weisheiten der Menschenwelt: Ein guter Lehrling muss besser werden als sein Lehrer, sonst gäbe es keinen Fortschritt unter Menschen.

Mit der Zeit war es mit dem Spaß vorbei. Alle Älteren gingen aus dem Elternhaus fort. Auf einen Schlag war der Kleine allein mit seinen alten Eltern, die bereits über vierzig waren, als sie ihn zur Welt brachten.

Dem Kleinen bekam es schlecht und er wurde dadurch krank in der Seele. Jeden Abend bis in die Nacht hinein verfolgten ihn Szenen, wie seine Eltern sterben würden und er ganz allein auf der ganzen Welt bliebe.

Auf diesem Höhepunkt seiner traurigen Phantasien angekommen, begann er mitten in der Nacht zu heulen. Die Mutter oder der Vater mussten zu ihm ins Bett kommen, ihn an seinen Haaren streicheln und ihn beruhigen, bis sein Heulen ins Seufzen überging und er schließlich einschlief. Der Kleine war zu dieser Zeit vierzehn Jahre alt.

Zusätzlich erdrückte ihn währenddessen die Aussicht, im nächsten Jahr ebenfalls von den Eltern fortgehen zu müssen – seine Dorfschule bot ihm nur acht Klassen. Um weiter zu kommen, musste man in eine größere Mittelschule gehen, die in einem anderen, zehn Kilometer entfernten Dorf war.

Dies bedeutete, einen Unterschlupf für die nächsten zwei Jahre entweder in einem Schulinternat oder, falls es dort keinen Platz für ihn gäbe, bei einer der vielen durch den Krieg und Stalins Säuberungen verwitweten Greisinnen unter den Einwohnern dieses anderen Dorfes zu suchen.

Als er jedoch in einem Jahr ins Internat ging, fand er dort eine lustige Gesellschaft von zehn Mitschülern in verschiedenem Alter in einem ebenfalls engen Raum vor und somit auch seine endgültige Genesung wieder.

Nach der Schule ging er zur Uni und wohnte in verschiedenen Studentenheimen, wo immer eine Menge Kommilitonen um ihn herum waren, darunter auch viele echte Kumpels. In jeder Männergesellschaft kam er schnell und gut an: Die Brüderlehre war nicht umsonst gewesen.

Nur noch ein Mal erlebte er etwas ähnliches wie vor sieben Jahren, als seine Studienzeit zu Ende ging und er sich mit einer vergleichbaren Panik vorzustellen versuchte, wie er dann außerhalb seines Studentenheimes wieder allein, ohne Kumpels leben soll. Dann kam aber die Heirat und somit seine eigene Familie zustande.

Die Familie gab ihm das Gefühl – endlich nie mehr allein bleiben zu müssen.

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